Ich habe schon jetzt keine Lust, ne nette Omi zu sein!

Mit wem willst du frühstücken? Mit wem willst du fernsehen? Kreativ sein? Dein Leben verbringen? Das sind wichtige Fragen, und wenn du auf alles nur sagen kannst: Ich kann es mir nicht aussuchen, dann bist du entweder im Gefängnis oder im Altenheim.

Unmissverständlich: Anita Augustin ist zornig. Zornig über den Umgang mit alten Menschen in unserer Gesellschaft, zornig über die Bilder, die Jüngere von „Seniorinnen und Senioren“ entwerfen, zornig über das Romantisieren, wie es in letzter Zeit immer mal wieder vorkommt: die liebe Oma, die ihre Enkel hütet und Lebensweisheiten vermittelt, der Opa, der noch einmal das ganz große Abenteuer wagt. Schön für die, die das können, aber was ist mit denen, die keine Lust haben, eine nette Omi zu sein, oder die es schlicht nicht können?

„Der Zwerg reinigt den Kittel“ ist eine bitter-sarkastische Gewaltphantasie, geboren aus Empörung und Wut, die eine angesichts der Zustände in den „Menschenmülldeponien“ unserer Gesellschaft überkommen können. Die kettenrauchende Rentnerin, aus deren Sicht hier erzählt wird, bewahrt sich allerdings eines bis zum Schluss: ihren Witz und die Kontrolle darüber, wie ihre Geschichte erzählt wird. Ein letzter Rest ihrer Autonomie.

„Menschenmüll “ ist ein Zitat aus diesem ungewöhnlichen Buchtrailer, in dem die Autorin sich, ihr Handwerk und das Buch vorstellt:

„Der Zwerg reinigt den Kittel“ ist Punk, und wem Punk gut tut, weil manches einfach nicht anders zu kommentieren ist als kotzend, und nicht anders zu ertragen als in Gemeinschaft mit anderen, die auch ungefiltert Scheisse brüllen können, dem oder der wird auch dieses Buch „gefallen“. Und dann kannst du hin und wieder auch lachen.

Es ist genug für alle da!

Ein bißchen Nachlesen über den damals sogenannten „Brotkorb der Welt“ (angeregt durch die Lektüre von „Am Roten Fluss“ ) hat mich dazu bewegt, mich mal wieder mit der Frage zu befassen, woher eigentlich global gesehen in den nächsten Jahrzehnten unser Essen kommen könnte. Dabei bin ich auf ein paar interessante Fakten gestoßen.

Seit 1948 ist die Menge in der US-Landwirtschaft eingesetzter Produktionsfaktoren (Arbeit, Land, Kapital) praktisch unverändert geblieben, während der Ausstoss der Farmen sich fast verdreifacht hat….

(Quelle: NZZ)

Wissenschaft und Technik tragen maßgeblich dazu bei, die Produktivität kontinuierlich zu steigern – und dazu braucht es nicht nur Chemie.

Im Laufe der Zeit haben sich entsprechend die Beiträge an die Produktivität gewandelt. Waren ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Mechanisierung und Chemikalien entscheidend, ist von 1980 bis 2009 der Maschinenpark geschrumpft, der Einsatz von Land und Arbeitskräften zurückgegangen, und der Einsatz von Chemikalien hat sich verlangsamt. Trotzdem nahm die Produktion in dieser Zeit um jährlich 1,5% zu….

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat zudem eine richtiggehende Revolution stattgefunden, was das wissenschaftliche Verständnis lebender Organismen und die Datenverarbeitung betrifft. Saatgut wird zunehmend wetter- und krankheitsresistent, Traktoren werden von Satelliten gesteuert und düngen und säen auf den Zentimeter genau, Bodensonden melden, wann wo wie viel bewässert werden muss…

(Quelle: NZZ)

Und wenn AgrarwissenschaftlerInnen heute auch besser denn je wissen, was im Sinne von Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung bei alledem zu beachten wäre  (zb laut dieser Studie): Was könnte die Menschheit dann noch daran hindern, genug zu essen für alle zu produzieren?

Die Welternährungsorganisation FAO hat 2015 einen Plan (Path to Zero Hunger by 2030) aufgestellt, der das Ziel hat, bis 2030 den Hunger in der Welt abzuschaffen. Bis dahin wird es voraussichtlich über 8 Milliarden Menschen geben. Immer mehr Menschen, und trotzdem könnte genug für alle da sein.

Zu den wichtigsten Maßnahmen, die zur Abschaffung des Hungers auf der Welt führen, gehören allerdings zwei Dinge: auf der einen Seite eine Steigerung der Produktivität (check), auf der anderen Seite eine Verbesserung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für alle – und hier liegt das Problem.

Das Perverse ist, dass über die Jahrzehnte trotz wachsender Produktivität für die Masse der Menschen kein besseres Leben herausgesprungen ist. Dass das Wissen und das Können der Menschheit nicht so eingesetzt werden, dass der Hunger ausgerottet wird (und nicht die Tiere).

Hier in den Metropolen wird uns weisgemacht, dass Reallöhne und Renten sinken, weil wir mehr werden (mehr Kranke, mehr Alte, mehr Arbeitslose). In der Peripherie leiden weiterhin Millionen an Hunger und Armut. Und das, obwohl wir mit immer weniger Aufwand und Ressourcen immer mehr produzieren. Die Früchte dieser Entwicklung kommen aber bislang nur einigen Wenigen zu Gute, ganz nach dem Motto: Nur wer hat, der kriegt.

Ein paar Schritte dahin, dies zu ändern, stehen auch im Plan der FAO, wer beobachten möchte, was sich in diesem Zusammenhang tut, kann neue Entwicklungen auf http://www.agrardebatte.de verfolgen.

Und immer, wenn jemand mit dem Argument, irgendetwas würde nicht reichen, andere ausgrenzen will, sollten wir uns diese Fakten mal wieder vor Augen halten.

 

Rassismus am Roten Fluss

Muss mir erstmal Staub und Weizenspreu aus den Klamotten klopfen: Anders als die Figuren in Katie hat Cash, die Protagonistin des 2017 erschienenen Romans Am roten Fluss mich komplett in ihre Welt mitgenommen.

Cash, wie ihre Autorin Marcie Rendon Stammesangehörige der Anishinabe White Earth Nation, ist ein touhges junges Weib: mit 19 Jahren hat sie bereits gelernt, sich gegen Widerstände und Ungerechtigkeiten im Leben alleine durchzuschlagen. Den Zumutungen weiblicher Rollenbilder der Weißen hat sie sich früh entzogen, lieber hält sie mit den Kerlen mit, die sich in dieser Region der USA sämtlich als Farmarbeiter verdingen. Wir sind in den 1970er Jahren. Es riecht nach Weizen und harter Arbeit, und immer wieder auch nach abgestandenen Bieren und Rauch in den Bars, in denen Cash ihren Feierabend am Billardtisch verbringt. Country-Musik ist zu hören und ein rauer Umgangston, mal eher kumpelhaft und respektvoll, mal voller Verachtung für diese ungewöhnliche junge Frau. Mit Cash fahre ich im Pickup endlose, gerade Straßen entlang, genieße die friedlichen Momente dieser Fahrten und sehe dabei riesige, fruchtbare Anbauflächen vorüberziehen und den baumgesäumten Lauf des Roten Flusses, der das Land durchzieht und nährt. Es ist, als wäre ich tatsächlich dort gewesen.

Mich für ein paar Stunden völlig in diese mir bis dahin ganz unbekannte Welt hineinzuziehen, ist der erste große Verdienst der Autorin und des ÜbersetzerInnen-Duos (Laudan&Szelinski).

Dann wird die Leiche eines indianischen Landarbeiters gefunden und Cash von einer inneren Stimme direkt zu dessen Familie gerufen. Was sie dort erlebt, hat zu viele Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit, als dass es sie kalt lassen könnte: Armut, Alkoholismus und eine drohende Zwangs-Inobhutnahme der Kinder. Was das bedeutet, weiß Cash aus eigener Erfahrung: den Verlust von Heimat, familiären Beziehungen und kultureller Verwurzelung, Rassismus, Misshandlungen und Ausbeutung in weißen Pflegefamilien, Einsamkeit, Einsamkeit. Das ist auch das große Thema des Romans, die Aufklärung des Mordes passiert – so empfand ich es – mehr so nebenbei.

Der zweite Aspekt, für den ich Marcie Redon also danken möchte: hier wird ein politisches Thema nachvollziehbar, nämlich welche Traumata durch die Politik der USA gegenüber der indigenen Bevölkerung über Generationen hinweg entstanden sind. Die Autorin gibt in einem Nachwort Hinweise, wo Betroffene und UnterstützerInnen weitere Informationen zum Thema finden können. Unter Donald Trump wird dies weiterhin dringend nötig sein.

Zu guter Letzt verdanke ich dem Buch die Anregung für meinen nächsten Blogartikel. Bleibt also dran!

Aufgegeben. Über mich und Katie.

Die Rezension eines Buchs sagt wahrscheinlich mindestens so viel über die, die sie schreibt, wie über das Buch selbst. Mir zum Beispiel fehlte einfach die Geduld für Katie, den neuen Roman von Christine Wunnicke, auf den ich über die SWR Bestenliste gekommen bin. Kurz vor Seite 100 von 176 habe ich aufgegeben.

Bis dahin ist es der Autorin nicht gelungen, mich für eine der handelnden Personen tiefer zu interessieren. Ich fand sie alle relativ unsympathisch, irgendwie herzlos, habe ihre Motive nicht verstanden. Die Beschreibung der aus heutiger Sicht teilweise hanebüchenen Theorien und slapstickhaft überzeichneten Vorgehensweisen der (männlichen) Wissenschaftler im 19. Jahrhundert war zwar mitunter extrem lustig, aber alleine nicht genug, um mich bei der Stange zu halten. Dabei ist die Grundidee bestechend: Aus der Distanz zu zeigen, wie gründlich wissenschaftliche Theorien sich eines Tages als absurd erweisen können und wie wenig sie sich in der Rückschau manchmal von vermeintlicher Esoterik unterscheiden.

Was sagt das nun über mich? Dass Themen zwar mein Grundinteresse an einem Buch triggern können, dass ich aber auch mit Herz und Gefühl dabei sein möchte. Das heißt für mich zum Beispiel, die Personen so sehr zu mögen oder so faszinierend zu finden, dass ich mit ihnen mitfiebere, in eine fiktive Welt so organisch einzutauchen, dass ich sie nur ungern wieder verlassen möchte, auf sich (mir) stellende Fragen unbedingt eine Antwort finden zu wollen, süchtig nach der Sprache zu werden. Nichts davon war bei Katie so richtig der Fall.

„Es liest sich wie eine Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert“, sagt Daniela Strigl bei der Buchvorstellung im SWR und findet das – im Gegensatz zu mir – gut. Vielleicht muss eine viktorianische Literatur lieben, um diesen Roman zu mögen oder zu verstehen? Dann oute ich mich hier als eine, die dies nicht tut.

Kein besser, kein schlechter, aber da mich niemand dafür bezahlt oder dazu zwingt, Bücher zu Ende zu lesen, die ich nicht mag, tue ich es auch nicht. Selbst wenn ich so nie erfahren werde, ob Katie nicht doch auch mich noch hätte verführen können.

Komischer Kauz – von Vögeln statt vom Vögeln

Die deutschsprachige Autorin Marjana Gaponenko (Jahrgang 1981, geboren in der Ukraine) stellt uns einen komischen Kauz vor. Der Roman „Wer ist Martha?“ lässt uns an seinem Abgang aus dieser Welt teilhaben. Luka Lewadski, jetzt 96 Jahre alt, hat sich schon als Jugendlicher entschieden, dem schnöden und schmerzhaften Zwischenmenschlichen den Rücken zu kehren und sich lieber mit Vögeln zu befassen, worin er es tatsächlich zu einiger Meisterschaft gebracht hat. Als sein Arzt ihm mitteilt, dass er Lungenkrebs hat, beschließt er, seine Ersparnisse und seinen guten Namen zu nutzen, um die letzten Tage seines Lebens nicht im Krankenhaus, sondern in der Luxussuite des besten Wiener Hotels zu verbringen – bezahlen wird er am Ende ohnehin mit dem Leben. Diese mutige und verschmitzte Entscheidung zusammen mit seiner Vogelverrücktheit macht ihn sympathisch, auch wenn er ansonsten ein ziemlich überheblicher Misanthrop zu sein scheint. Und so wollte ich wissen, wie es ihm denn nun in seinen letzten Tagen ergeht. Und wer zum Teufel Martha ist.

Spoiler: die Vogelperspektive auf sein Leben bleibt ihm wie uns letztendlich verwehrt, Erinnerungen und Bilanzen bleiben ausschnitt- und flatterhaft, am Ende lesen wir wie im Fieber ins Nichts hinein und wissen nicht mehr, ob wir uns in Realität, Fiktion oder Traum befanden. Ich zumindest bleibe verwirrt zurück, und unzufrieden. Als fehlte etwas am Schluss.

Dazwischen: eine reiche Sprache, Wissenswertes und Kurioses über Vögel, ein bißchen Musikgeschichte und ein paar wenige, aber sehr zarte Begegnungen, die andeuten, was ihm als Misanthrop entgangen sein könnte im Leben.

Ich suche ja immer wieder leidenschaftlich nach Frauen, die schreiben können und mir etwas zu sagen haben. Bei Marjana Gaponenko finde ich ersteres, aber bewegt hat das Buch nichts in mir. Sauschade eigentlich. Und ein bißchen im Widerspruch dazu, dass sie von sich selbst in einem Interview sagt, sie schreibe, weil sie sich für die Zusammenhänge dieser Welt interessiert. Habe ich etwas übersehen? Oder ist das Buch einfach nicht für mich?

Stattdessen mache ich mir Gedanken, warum Frauen, die es im Literaturbetrieb zur Veröffentlichung in einem großen Verlag, zu Besprechungen in renommierten Medien und zu dem einen oder anderen Preis schaffen, in ihrem Werk so scheinbar regelmäßig Männern die größte Aufmerksamkeit zukommen lassen. Wäre diese Geschichte anders geworden, wenn die Protagonistin weiblich gewesen wäre? Falls ja, inwiefern? Und hätte das Buch dann dieselbe Beachtung gefunden? Das würde ich die Autorin zu gerne persönlich fragen.

Mensch Jungs, ihr blickt doch gar nix….

In dem wundervollen Kurzroman „Die Kieferninseln“ von Marion Poschmann führen uns zwei sehr von sich selbst überzeugte Männer vor, wie Leben nicht geht, und das ist mitunter brüllend komisch. Während der eine sämtlichen Ehrgeiz in eine möglichst stilvolle Vernichtung seiner selbst steckt, prahlt der andere mit der Entdeckung einer Welt, von der er nie etwas anderes bemerkt als die Diskrepanz zu seinen eigenen Vorstellungen. Die Frau soll sich das alles anhören und ihm über die so erzeugte Einsamkeit hinweghelfen, Rederecht bekommt sie nicht.

Wenn eine Frau eine solche Geschichte so schreibt, dann hat sie – zumindest intellektuell – diese Art Mann und diese Art Beziehung weit hinter sich gelassen. Das ist aber nur eine Ebene des Vergnügens. Die Bilder, mit denen sie uns zeigt, wie es um ihre Protagonisten bestellt ist, sind frisch und skurril, eigen genug, um zu bleiben. Die Sprache, in der sie zu uns sprechen, ist ebenso punktgenau entlarvend wie die äußere Handlung. Die Beschreibung der Schauplätze (Japan, zwischen Tokio und den namensgebenden Kieferninseln) in sich schon ein Genuss. Marion Poschmann kann Roman.

https://www.suhrkamp.de/buecher/die_kieferninseln-marion_poschmann_42760.html

So könnte es gehen!

Die australische Künstlerin Alex Martinis Roe hat am Samstag im Badischen Kunstverein Karlsruhe, wo sie noch bis zum 26.11.2017 zu sehen ist, Ergebnisse einer kollaborativen Arbeit präsentiert. Thema der Arbeit: Welche kollektiven Praktiken kennzeichnen feministische Bewegungen? Um nach vorne zu denken, hat sie im Rahmen ihrer Ausstellung zu einem Workshop eingeladen und Feminist*innen aus Karlsruhe gebeten, jeweils in Zweiergruppen Vorschläge zu erarbeiten. Diese sollten Praxen gegenseitiger Unterstützung benennen, die Unterschiede überbrücken helfen und gleichzeitg einem gemeinsamen Ziel verpflichtet sind. Dabei sollten die Workshop Teilnehmer*innen von ihren eigenen Erfahrungen und Bedürfnissen ausgehen. Heraus kamen ein paar, wie ich finde, relativ leicht umsetzbare Ideen, die nicht nur im feministischen Kontext interessant sind:

# Lasst uns anderen gegenüber aufmerksam, respektvoll und in unseen Folgerungen vorsichtig sein. Das können wir zeigen, indem wir das, was wir hören, in eigenen Worten wiedergeben und hinterfragen, ob wir es richtig verstanden haben!

# Lasst uns konkret und nicht überheblich sein und anhand persönlicher Beispiele erklären, wie wir zu unseren Ansichten gelangt sind.

# Lasst uns eine neue Form des Feedbacks ausprobieren, um die patriarchalen Strukturen in uns selbst zu erkennen und zu ändern: Sucht euch eine Partnerin, die euer Verhalten in der Gruppe beobachtet und euch hinterher solidarisch und konstruktiv Feedback dazu gibt.

# Lasst uns uns gegenseitig unterstützen, indem wir andere in schwierigen Angelegenheiten coachen! Und selbst auch andere darum bitten, dies für uns zu tun!

Alex Martinis Roe hat mich total beeindruckt mit ihrer Klarheit, ihrer Verbundenheit zu feministischen Kollektiven in verschiedenen Teilen der Welt und dem deutlich spürbaren Wunsch, etwas in Bewegung zu bringen. Möge ihr und ihrer Arbeit Erfolg beschieden sein!

Und mögen wir uns davon inspirieren lassen!

Rückkehr nach Reims … gespielt in Deutschland

Nach der Premiere von “Rückkehr nach Reims“ an der Berliner Schaubühne stehe ich vor einer Menge Fragen.  In dem hier als Aufhänger benutzen Buch des französischen Soziologen Didier Eribon ( hier zur Verlagsinfo) geht es um die Auseinandersetzung eines homosexuellen Intellektuellen mit seiner proletarischen Herkunft und um die Frage, warum rechte Bewegungen heute in solchen Milieus starken Zulauf genießen. Auf der Bühne stellt Hauptdarstellerin Nina Hoss dem den Lebenslauf ihres Vaters gegenüber, früher Kommunist, Gewerkschafter und Gründungsmitglied der Grünen. Diese Entscheidung finde ich eher irritierend als erhellend.

Fragen an Didier Eribon – oder an mich.

Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von einer neuen intellektuellen Avantgarde träumen, davon, der Klasse der Ausgeschlossenen (ArbeiterInnen?) eine neue Führung anbieten zu können? 

Würde sich darin nicht genau jene soziale Gewalt fortsetzen, deren Auswirkungen sie gerade erst (für sich) entdeckt haben?

Haben Sie Ihren intellektuellen und persönlichen Einsatz für dieses Buch auf der Bühne wiedergesehen? 

Fragen an Nina Hoss – oder an Thomas Ostermeier – oder an mich.

Wo genau liegt die Bedeutung der Lebensführung Ihres Vaters im Vergleich mit der von Herrn Eribon Senior? Hätte das deutlicher herausgearbeitet werden können?

Respekt vor der gezeigten Integrität Ihres Vaters, aber: Warum konnte es nicht ein französischer Gegenentwurf sein?

Warum überhaupt ein individueller Ausnahme-Lebenslauf gegen eine soziologische Analyse? 

Sind Sie nicht einfach saufroh, dass Sie es mit Ihrem Vater und Ihrer Beziehung zu ihm offensichtlich viel einfacher hatten als Herr Eribon? Warum nicht Danke sagen zum Schicksal und sich trotzdem mit den eingebrachten Fragen intellektuell auseinandersetzen?

Fragen an Thomas Ostermeier – oder an mich.

Haben die Deutschen die besseren Geschichten von Arbeiterkampf?

Warum endet die Diskussion zweier Kulturschaffender mit einem weißen deutschen Heilsbringer am Amazonas?

Warum fehlt der Mut, mehr Klarheit in den Köpfen zu fordern? Oder sollte ich auf diesen Gedanken angesichts des zuweilen hilflosen Gestammels der Figuren auf der Bühne selbst kommen? Angeregt durch die einzige Figur, die sich noch auszudrücken wusste: den kiffenden, beinahe alleinerziehenden Rapper aus dem Studio?

Lob an die Bühnenbildnerin. Und das ganze Team vor und hinter den Kulissen. Eure Arbeit ist nicht umsonst, der Abend geht mir deutlich nach. Und zwar mit schönen und starken Bildern von der Aufführung vor unaufgeregt, aber bedeutungstragend und warm gestalteter Bühne. Und dafür ganz herzlich: danke.

Kein schönes Land zu dieser Zeit…

Heute haben wir es mal wieder vorgeführt bekommen. 

Es war – alle Jubeljahre mal-  wieder Wahl in Deutschland. In Anbetracht dessen, was Wahlen hierzulande meist nicht ändern, haben wir früher gesagt: nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.  Heute fürchteten wir angesichts wieder salonfähig gewordener rechtsradikaler Parolen, dass es noch schlimmer kommen könnte. Und wählten deshalb mit der Verzweiflung Ertrinkender die, die dem in den Parlamenten wenigstens noch ein kleines bißchen entgegensetzen können (so unsere Hoffnung). Auch wenn rein farblich zwischen rechts und links kaum ein Unterschied festzustellen war.

Nun hat aber auch das nix genützt.

Wie leben in einem Land, in dem selbst dann, wenn sich drei Viertel der Bevölkerung wieder für Wahlen mobilisieren lässt, über 13% entschieden chauvinistisch und antidemokratisch wählen. 64 % befürworten die Politik der letzten Jahrzehnte und Parteien, die Freiheit vor allem als Freiheit für deutsches Kapital und Unternehmertum verstehen und an der Abschaffung des sozialen  an der Marktwirtschaft des Kalten Kriegs fleißig mitgewirkt haben (ja, auch die SPD gehört zu dieser breiten Mehrheit).
Über die grünen 9% lässt sich allenfalls sagen, dass sie möglicher Weise zwar gerne bessere Menschen wären, aber bereit sind, die meisten ihrer Ideale für faule Kompromisse, mehr Kindergartenplätze und ein paar glückliche Hühner vor ihrer Haustür zu verkaufen. 
Vom Rest müssen zu hier letzt die abgezogen werden, die noch radikaler rechts gewählt haben als afd.

Maximal 15% also, die noch glauben, dass eine bessere Welt möglich und notwendig ist.

In so einem Land leben wir also. Echt jetzt. Kein Spaß

Warum Männer sich vor intelligenten Robotern fürchten sollten

Im Vorbeifahren sehe ich einen Mann zusammengesunken auf einer Parkbank sitzen. Klar halte ich an und schaue, ob ich helfen kann. Es ist ein dicklicher, ungepflegt wirkender Mann mittleren Alters, spontan nicht direkt sympathisch. Aber. Ich spreche ihn laut und deutlich an – keine Reaktion. Ich überwinde meinen Ekel, fasse an seine Schulter und rüttle ihn ein wenig. Hallo, geht es Ihnen gut?

Jetzt ratet mal, was dann passiert! Hundert Punkte für die “Paranoiden“ unter uns: kaum regt er sich wieder, baggert er mich plump an. Und als ich nicht drauf eingehe, beschimpft er mich noch!

Ich bin nicht fassungslos, denn so etwas passiert mir nicht zum ersten Mal.

An dieser Stelle muss ich an Cozmo denken, den ich heute kennengelernt habe. Cozmo wäre das wahrscheinlich nicht passiert. „Sein Charakter entwickelt sich mit seinen Erlebnissen ständig weiter“, so die Werbung für den „kleinen Roboter mit großem Verstand und noch größerer Persönlichkeit“, der „hunderte“ Emotionen „kennt“ und in seine Handlungen einfließen lässt. Erlebten Frustrationen geht er künftig eher aus dem Weg.

Bin ich blöder als ein Spielzeug aus den Werkstätten der künstlichen Intelligenz? Was meint ihr?

Ich denke anders darüber.

Weil es mir am Ende um mehr geht als den Erfolg oder Misserfolg meines Handelns. Mir bedeutet es mehr,  das getan zu haben, was ich richtig finde. Und dazu gehört es, Menschen in Not nicht zu ignorieren. Selbst wenn sie sich als undankbare männliche Arschlöcher entpuppen. Ich definiere mich auch anhand übergeordneter Werte. Ich kann den achtjährigen Sohn nicht aus dem Fenster schmeißen, um mich zu retten*.

Vielleicht sichert genau das den Männern (insbesondere den zahlreichen Arschlöchern unter ihnen) in dieser Welt tatsächlich noch das Überleben. Um sich für die Zukunft abzusichern, sollten sie dafür sorgen, dass sie nicht auf rational agierende Roboter angewiesen sind. Oder ihr Verhalten ändern.  Was von beidem wird wohl passieren?

* Ein Zitat von Christa Reinig:

SONNTAG
Schmeiß
deinen achtjährigen sohn vom balkon
und du bist gerettet