Ich packe meinen Koffer…

Simone Hirth (Jahrgang 1985) lässt in ihrem gerade erschienenen Roman Bananama ein Mädchen sprechen, das noch keine zehn Jahre alt ist und mit ihren Aussteiger-Eltern völlig isoliert vom Rest der Welt irgendwo auf dem Land lebt. Die Eltern haben beide einen gewaltigen Hau. Die Mutter fängt zigtausend Sachen an, darf dabei nicht gestört werden und macht dennoch nichts zu Ende, weil sie „gerade nicht den Kopf dafür frei“ hat. Der Vater fährt ständig zu Tauschbörsen und vermittelt sein aus dem Internet zusammengeklaubtes Halbwissen, verwurschtelt mit einer ziemlich halbgar anmutenden Ideologie, in unerschütterlicher Borniertheit an die Tochter. Die natürlich auch nicht in die Schule gehen darf. Gefühle, Erfahrungen, Widersprüche werden unter den Tisch gekehrt. Keine Geschwister, keine Freundinnen, keine Oma, kein Haustier: die Einsamkeit des Mädchens ist abgrundtief und allumfassend.

Das Kind entwickelt notgedrungen seine eigenen Strategien, sich unter diesen Rahmenbedingungen zurechtzufinden. In diese Entwicklung gehört auch die Aneignung von Sprache. Doch wo Wort und Erleben nicht zusammenpassen, ist das Wort vergiftet. Dafür schenkt uns die Autorin eindrückliche Bilder. So wird das Kind zu Anfang allerlei Wörter begraben – in Einmachgläsern unter dem großen Walnussbaum. Dort landen zum Beispiel die Angst und das Mitleid. Später wird immer wieder etwas in erdachte Koffer gepackt, in der Vorahnung eines Aufbruchs, als Proviant für ein eigenes Leben. Das ist toll und sehr nachvollziehbar.

Gefehlt hat mir bei alledem aber leider: Dynamik. In Überschriften werden zwar immer wieder Ereignisse in Aussicht gestellt, aber die geweckten Erwartungen werden regelmäßig enttäuscht. Vielleicht soll es uns als LeserInnen nicht anders gehen als dem Kind in der Erzählung? Die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren? Bitter.

Auch das Ende hat mich nicht ganz überzeugt, kam für mich unvermittelt und viel zu knapp daher. Ich hätte mir mehr Zeit gewünscht, um mich zu verabschieden. Begraben.

Aus diesem Buch packe ich jedoch in meinen Koffer: die Gabe der Beobachtung und den Drang, sich selbst einen Reim auf die Welt zu machen, als Keim der Rebellion.

Den wunderschönen Einband hat Christine Fischer gestaltet.

Rückkehr nach Reims … gespielt in Deutschland

Nach der Premiere von “Rückkehr nach Reims“ an der Berliner Schaubühne stehe ich vor einer Menge Fragen.  In dem hier als Aufhänger benutzen Buch des französischen Soziologen Didier Eribon ( hier zur Verlagsinfo) geht es um die Auseinandersetzung eines homosexuellen Intellektuellen mit seiner proletarischen Herkunft und um die Frage, warum rechte Bewegungen heute in solchen Milieus starken Zulauf genießen. Auf der Bühne stellt Hauptdarstellerin Nina Hoss dem den Lebenslauf ihres Vaters gegenüber, früher Kommunist, Gewerkschafter und Gründungsmitglied der Grünen. Diese Entscheidung finde ich eher irritierend als erhellend.

Fragen an Didier Eribon – oder an mich.

Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von einer neuen intellektuellen Avantgarde träumen, davon, der Klasse der Ausgeschlossenen (ArbeiterInnen?) eine neue Führung anbieten zu können? 

Würde sich darin nicht genau jene soziale Gewalt fortsetzen, deren Auswirkungen sie gerade erst (für sich) entdeckt haben?

Haben Sie Ihren intellektuellen und persönlichen Einsatz für dieses Buch auf der Bühne wiedergesehen? 

Fragen an Nina Hoss – oder an Thomas Ostermeier – oder an mich.

Wo genau liegt die Bedeutung der Lebensführung Ihres Vaters im Vergleich mit der von Herrn Eribon Senior? Hätte das deutlicher herausgearbeitet werden können?

Respekt vor der gezeigten Integrität Ihres Vaters, aber: Warum konnte es nicht ein französischer Gegenentwurf sein?

Warum überhaupt ein individueller Ausnahme-Lebenslauf gegen eine soziologische Analyse? 

Sind Sie nicht einfach saufroh, dass Sie es mit Ihrem Vater und Ihrer Beziehung zu ihm offensichtlich viel einfacher hatten als Herr Eribon? Warum nicht Danke sagen zum Schicksal und sich trotzdem mit den eingebrachten Fragen intellektuell auseinandersetzen?

Fragen an Thomas Ostermeier – oder an mich.

Haben die Deutschen die besseren Geschichten von Arbeiterkampf?

Warum endet die Diskussion zweier Kulturschaffender mit einem weißen deutschen Heilsbringer am Amazonas?

Warum fehlt der Mut, mehr Klarheit in den Köpfen zu fordern? Oder sollte ich auf diesen Gedanken angesichts des zuweilen hilflosen Gestammels der Figuren auf der Bühne selbst kommen? Angeregt durch die einzige Figur, die sich noch auszudrücken wusste: den kiffenden, beinahe alleinerziehenden Rapper aus dem Studio?

Lob an die Bühnenbildnerin. Und das ganze Team vor und hinter den Kulissen. Eure Arbeit ist nicht umsonst, der Abend geht mir deutlich nach. Und zwar mit schönen und starken Bildern von der Aufführung vor unaufgeregt, aber bedeutungstragend und warm gestalteter Bühne. Und dafür ganz herzlich: danke.