Ein Sack Reis in China

Metronormativität heißt: alles allein aus der Perspektive von Stadtbewohner:innen zu betrachten. Dabei brauchen wir das Land. Von dort kommt unser Essen. Dort erholen wir uns. Dort liegen die Rohstoffe für unser ganzes Leben. Vielleicht weil diese Abhängigkeit im Alltag der städtischen Konsument:innen kaum erfahrbar ist, wird sie im politischen Denken oft ausgeblendet. Das ist schräg – und fatal.

Xiaowei Wang, US-Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln – hat mir nicht nur diesen Begriff beigebracht. In ihrem kürzlich erschienenen Buch geht es um die Frage, wie es im zeitgenössischen China um das Verhältnis zwischen Stadt und Land bestellt ist. Das ist nicht nur deshalb interessant, weil China Digitalisierung und Anschluss an kapitalistisch organisierte Weltmärkte im Schnelldurchlauf vormacht. China ist gleichzeitig Agrarmacht und muss es bleiben, da der Staat einen Großteil der Weltbevölkerung, nämlich mehr als 2 Milliarden Menschen, zu ernähren hat. Wie geht das? Was bedeutet es für die einzelnen Menschen, vor allem auch auf dem Land?

Die Erfahrungen, die Xiaowei Wang auf ihren Reisen nach China gesammelt hat, hat sie in einem Buch mit dem Titel „Blockchain Chicken Farm“ veröffentlicht. Wer es liest, kann einen Blick hinter die Kulissen dessen erhaschen, was im Westen oft nur in Bildern von Megacities ohne Luft zum Atmen oder in Gestalt von chinesischen Billigangeboten bei Amazon auftaucht.

Eine Stärke des leider bislang nur auf Englisch vorliegenden Buchs liegt in seiner ganz haptischen, wenig dozierenden Darstellung. Anhand von Portraits einzelner Menschen werden unterschiedliche Facetten des Themas sichtbar. Da ist zum Beispiel der Bauer, der seit jeher freilaufende Hühner züchtet, aber vor dem Problem steht, dass die gutsituierten Konsument:innen in der entfernten Stadt immer misstrauischer werden, was die Qualität der Lebensmittel angeht. Seine Lösung: die Zusammenarbeit mit einem Hightech- Unternehmen, das einen Herkunftsnachweis per Blockchain-Verfahren umsetzt (dieser Geschichte verdankt das Buch seinen Titel). Später begegnen wir einem Polizisten, der vom automatisierten Profiling erzählt, in dessen Fokus vor allem die Landflüchtigen geraten, die es schwer haben, in den Städten mit überteuerten Wohnungen und für sie erschwertem Bildungszugang Fuß zu fassen. Der aus dem Profiling häufig folgenden Kriminalisierung ist ein junger Mann entkommen, der als Drohnenpilot zurück aufs Land ging und dort mit der Ausbringung von Pestiziden ein gutes Auskommen zunächst ein sehr gutes Auskommen fand. Wie prekär jedoch auch dieses Konzept ist wird deutlich, wenn wir ihn auf eine Tagung begleiten, auf der der technologische Fortschritt gezeigt wird, durch den auch diese Arbeit bald überflüssig werden wird.

Es ist ein weiteres Verdienst des Buchs, globale und politische Bezüge sichtbar zu machen. So schildert Xiaowei Wang zum Beispiel die Veränderungen in einem extrem abgelegenen Dorf, in dem es durch den Internetanschluss plötzlich möglich schien, Halloween-Kostüme für den Verkauf in den USA zu schneidern und damit eine ganz neue Einkommensquelle zu erschließen. Doch dann fehlten Straßen, so dass die Lieferzeiten unerträglich lang und die Kund:innen verärgert waren. Erst nach staatlichen Investitionen in die materielle Infrastruktur konnte der Plan wirklich erfolgreich werden.

Blockchain Chicken Farm ist jedoch kein Loblied auf den Kapitalismus, auch nicht auf dessen chinesische Variante. Der Preis der kapitalistischen „Freiheiten“ ist auch in China besonders hoch für die große Masse derjenigen, denen der Zugang zu Kapital, Bildung, Infrastruktur und Unterstützung der Partei bzw. des Staates fehlt. Die Schattenseite zeigt sich darin, das der Staat das Elend nur noch verwaltet, und in eben all den verzweifelten, oft scheiternden individuellen Versuchen, wenigstens einen kleinen Anteil an dem in den Städten zur Schau getragenen „Wohlstand“ auf eigene Weise zu erlangen.

Bislang völlig außerhalb meines Fokus werden in diesem Zusammenhang sogenannte Multilevelmarketing– (a.k.a. Schneeball- oder Direktvertriebs-) Systeme thematisiert – dabei gibt es sie auch hier (Tupperware, Thermomix, Haka, etc.). Gemeint ist ein global existierendes Geschäftsmodell, das den Vertrieb über selbständige Subunternehmer regelt, die mit dem Kauf der Produkte (Waschmittel, Nahrungsergänzungsmittel, Perlen… egal) in Vorleistung treten und sich dabei oft hoch verschulden. Diese Subunternehmer können sich nur Entlastung verschaffen, indem sie ihrerseits wieder Subunternehmer rekrutieren, von deren Verkäufen sie dann Provision erhalten, usw. In China wie in den USA sind dies laut Xiaowei Wang oftmals Menschen, die auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Chance haben, häufig eben auch, weil sie in abgelegenen ländlichen Gebieten leben.

An dieser Stelle habe ich nebenbei etwas Interessantes über die USA erfahren. Denn Xiaowei Wang schildert, wie in derartigen Unternehmen sektenähnliche soziale Gemeinschaften mit eigenen, zum Teil auf „alternativen Fakten“ beruhenden Weltbildern entstehen und dass Donald Trump mit solchen Geschäften groß geworden ist. Hier wird ein möglicher Zusammenhang mit Trumps Wahlerfolgen in den Raum gestellt, weil diese staatenweise wohl mit der Verbreitung solcher Strukturen (Trump Network, ACN,…) korrelieren. Interessante Spur in Sachen rechtspopulistischer Mobilisierung. Davon hatte ich vorher noch nie etwas gehört.

Blockchain Chicken Farm bietet neue Perspektiven und damit viel Stoff, um in ganz verschiedene Richtungen weiterzudenken und zu recherchieren. Ich bin gespannt auf eure Gedanken dazu!

Medienkrake

Der letzten Wochenendausgabe der Süddeutschen lag ein Heft bei, das nur bei ganz genauem Hinsehen als Werbebeilage zu erkennen war. Der Titel: „Aufbruch. Mensch und Gesellschaft im digitalen Wandel“. Herausgeber ist (nicht die Süddeutsche, sondern:) Google. Was für Pläne verfolgt Google in der Medienlandschaft – und was bedeutet das für Information und Gesellschaft?

Mehrere hundert Millionen (!) Euro hat Google allein in Europa in den vergangenen Jahren in Kooperationen mit Medienhäusern oder – unauffälliger, aber sicher nicht weniger eigennützig – in Fortbildungs- und Unterstützungsangebote investiert.

Zusammen mit dem DGB und dem Otto-Brenner-Institut haben die Netzjournalisten Ingo Dachwitz und Alexander Fanta im Oktober 2020 eine Studie darüber veröffentlicht, wie „der Datenkonzern den Journalismus umgarnt“ (zum Download unter https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH103_Google.pdf). In zahlreichen Interviews mit zum Teil lieber anonym bleibenden Journalist*innen haben sie versucht, sich ein Bild darüber zu verschaffen, was genau Google da treibt und wo die Gefahren liegen könnten.

Das Fazit ist wenig überraschend. Digitale Medien sind technologisch sowieso schon extrem abhängig von Google, müssen es der Suchmaschine von Google recht machen, damit ihre Inhalte überhaupt gefunden werden, brauchen youtube, um ihre Videos zu vermarkten, nutzen Googles Statistiken und Trendanalysen für redaktionelle und strategische Entscheidungen, Googles Big Data zur (datenjournalistischen) Recherche, etc…. Dazu kommt nun, dass die Medienhäuser, die unter massivem Innovationsdruck stehen, sich von Google auch noch beraten und ausbilden lassen.

Mitmachen tuen notgedrungen die meisten. Google richtet inzwischen die größten Branchentreffen (mit) aus und hat Technologien im Portfolio, an denen schon heute im Journalismus kaum einer vorbeikommt. Vielleicht mag als Indiz gelten, wer sich in der Werbebeilage der Süddeutschen als Vorreiter in Sachen Digitalisierung des Journalismus von Google vorführen lässt: Deutschlandradio, Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), funk (das Jugendprogramm der Öffentlich-Rechtlichen), Social Media Manager eines CDU-Abgeordneten, der Beauftragte des Bundeswirtschaftsministeriums für Startups (CDU), kleinere Zeitungen, die sich im „HHLab“ zusammengetan haben, Gruner +Jahr, eine Zeit-Redakteurin und Podcasterin, sogar der Postillon und die Krautreporter. In der erwähnten Studie werden weitere genannt, wie die FAZ und der Spiegel.

Die Autoren nennen Google den wohl größten Journalismus-Mäzen der Welt. Einen Mäzen, der offensichtlich diejenigen stärker fördert, die eh schon groß sind. Der großzügig und ohne sich stark einzumischen die Entwicklung von neuen Ideen fördert, sich dabei aber vorbehält, diese später zu kopieren und für eigene Ziele zu verwenden. Ideen-Vampirismus würde ich das nennen.

Die enge und einseitige Verflechtung mit dem Konzern, so legt die Studie überzeugend dar, gefährdet nicht nur die Unabhängigkeit einzelner Medien, sondern die Pluralität der Medienlandschaft überhaupt.

Google wird gleichzeitig zur am meisten genutzten Quelle und zur am meisten genutzten Plattform zur Verbreitung von Informationen. Google zahlt im Allgemeinen nichts für die wertvollen Beiträge, die Journalist*innen der Datenkrake mundgerecht zu servieren lernen. Im Gegenteil: den Gewinn, der sich durch die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen in Form von Werbeeinnahmen generieren lässt, streicht Google fast alleine ein. Über den Wert, der im Zugriff auf die riesige Menge der so angehäuften Informationen liegt, kann ich nur spekulieren. Ich vermute, allein im Hinblick auf den Ausbau selbstlernender Systeme ist er immens. Und die bislang stärkste Lobby für eine gesetzliche Regulierung der Geschäftspraktiken des „Duopols“ von Google und Facebook – nämlich die Verlagsbranche – wird durch Geschenke gefügig gemacht. Vor den Augen der Öffentlichkeit.

Ich denke, dass Monopole im Bereich von Medien und Information (der „vierten Gewalt“) potentiell die Demokratie gefährden und deshalb nicht entstehen sollten. Daher halte nicht nur ich zwei Dinge für wichtig:

1 – die unabhängige Finanzierung von Alternativen, auf gesellschaftlicher Ebene durch Stärkung der Öffentlich-Rechtlichen und auf privater Ebene durch die Bereitschaft, für gute Inhalte auch zu bezahlen

2 – sinnvolle netzpolitische Regulierungen.

Das Thema ist extrem umfangreich – und ich wäre froh, wenn ich euch neugierig drauf gemacht hätte, mehr drüber rauszufinden. Ein guter Ausgangspunkt ist z.B. https://netzpolitik.org/?s=+Google . Und falls ihr suchmaschinenmäßig mal was anderes ausprobieren wollt, könntet ihr euch dies hier anschauen: https://metager.de/ .

Wie immer freue ich mich über Ergänzungen und Kommentare!

Das Auto-Auto und das Auto

Ist autonomes oder automatisiertes Fahren wirklich eine smarte Idee? Kann künstliche ‚Intelligenz‘ tatsächlich menschliche ersetzen, und wenn ja, wozu? Fragen beim Anblick dieser Szene:

Autonomes Fahrzeug küsst wehrloses unselbständiges….

Wie ich durch diesen Un- und Zufall erst herausbekam, testet der KVV in Karlsruhe derzeit den Einsatz selbstfahrender Fahrzeuge als Shuttle für kleinere Gruppen von Fahrgästen. Da, so heißt es in einem kurzen Artikel des SWR, komplett autonomes Fahren in Deutschland noch nicht erlaubt ist, seien sogenannte Sicherheitsfahrer an Bord gewesen. Doch der Wille des autonomen Fahrzeugs war offensichtlich stärker – es ließ sich nicht davon abbringen, seinem fluchtunfähigen, da weder autonomen noch fremdgesteuerten Artgenossen auf den Lack zu rücken.

Beruhigend ist das nicht.

Aber es hat auch sein Gutes. Hier wird körperlich manifest, was state of the art ist. (Und jetzt bitte keine Ausreden – es handelt sich nämlich nicht um Spielzeug aus einem Testlabor, sondern um das, was realen, unschuldig am Straßenrand parkenden Autos heute schon zugemutet wird).

Angesichts dieser real erlebten Autonomie eines Fahrzeugs gaukeln uns die Szenarien, die wir in der Moralmaschine des MIT nach Herzenslust beurteilen dürfen, viel zu viel menschliche Mitsprachemöglichkeit vor. Es fühlt sich natürlich immer gut an, gefragt zu werden – aber schon bist du involviert und hast die versteckte Prämisse geschluckt. Die lautet: das Automobil soll (oder müssen wir schon sagen: will?) autonom werden.

Autonomous food delivery robots on campus in Madison,Wisconsin

Aber wollen wir das auch? Brauchen wir das? Oder kann das wieder weg?

Digitalisierung in der universitären Lehre 1

Natürlich ist jedes Seminar anders und dies ist vielleicht gerade erst der Anfang. Aber die pandemiebedingte Umstellung auf digitale Formate lässt erahnen, dass eine umfassende Digitalisierung der universitären Lehre sehr grundsätzliche Veränderungen mit sich bringen kann. Welche, möchte ich in einer Reihe von Blogbeiträgen gerne mit euch diskutieren. Ich bitte also schon jetzt um eure Kritik: Widersprüche sind genauso willkommen wie Ergänzungen und eure ganz individuellen Eindrücke!

Heute möchte ich 6 Punkte vorstellen, die ich bereits aus jetziger Sicht für zentral halte. Jeder dieser Punkte hat zum Teil positive, zum Teil negative, aber auf jeden Fall gravierende Auswirkungen. Die Reihenfolge stellt keine Gewichtung dar.

1. Punkt: Inhaltliche Verschiebungen

Online-Unterricht führt zusammen mit der Tatsache, dass Bibliotheken pandemiebedingt lange geschlossen waren und noch immer nur eingeschränkt zugänglich sind, zu einer Verschiebung der Textauswahl. Material, das nicht digitalisiert vorliegt, also ältere Bücher, Fachlexika, Print-Zeitschriften und ähnliches, geraten aus dem Fokus. Stattdessen werden Seminare an online verfügbaren Inhalten orientiert, typischer Weise an Aufsätzen, die vorwiegend über den Marktführer Elsevier abzurufen sind. Für derartiges Material gelten unter Umständen aber andere inhaltliche und Ranking-Kriterien als für den klassischen Bibliotheksbestand. In diesem Zusammenhang stellen sich für mich verschiedene Fragen: Geht hierdurch auf lange Sicht Wissen verloren? Gehen mit dieser formalen Veränderung womöglich inhaltliche Veränderungen einher? Ändern sich Zugangsmöglichkeiten? Wem gehört das Wissen, wenn nicht mehr staatlichen Bibliotheken? Inwiefern erleben wir hier eine subkutane Privatisierung von Wissen?

2. Punkt: Urheberrechte und Inhaltsbesitz

Neben der bereits unter 1 erwähnten Problematik fällt auf, dass Digitalisierung die Frage nach dem Schutz geistigen Eigentums neu stellt. Nicht nur das von den Lehrenden geteilte Unterrichtsmaterial, auch die Arbeiten der Studierenden, können potentiell samt und sonders von anderen kopiert, verwendet, entstellt oder weiterverbreitet werden. Nun gibt es zwar Software, die das verhindert, diese wird jedoch nur teilweise eingesetzt. Es wird also in einer digitalisierten Universität dringender denn je, sich die Frage zu stellen, inwiefern geistiges Eigentum ein schützenswertes Gut darstellt, und, falls es das sein soll, wie es effektiv geschützt werden kann und wem wir als Gesellschaft diesen Schutz anvertrauen (privaten Unternehmen, dem Staat, oder…?).

3. Punkt: Verhinderung von Vorurteilen auf Grund physischer Merkmale

Solange Online-Lehre bedeutet, dass Studierende und Lehrende einander nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen, könnte Vorurteilen auf Grund äußerlicher Merkmale (Kleidung, Alter, Hautfarbe, Tattoos, etc) zunächst einmal der Boden entzogen werden. Damit könnten stärker als im Präsenzunterricht tatsächlich die selben Kriterien für alle angewendet werden, alle Studierenden sich auf Augenhöhe begegnen. Hat sich in Deutschland zwar noch nicht durchgesetzt, aber eine gute Idee in eine ähnliche Richtung sind ja Bewerbungsunterlagen ohne Fotos. Die Frage hier ist, ob dies bejaht und gewollt ist, oder ob dieser Effekt über kurz oder lang durch mehr Video-Präsenz-Veranstaltungen wieder verloren gehen wird.

4. Punkt: Einschränkung von Beteiligungsmöglichkeiten

Gleichzeitig führt aber die Tatsache, dass letztlich alle alleine vor ihrem Bildschirm sitzen und sich höchsten virtuell begegnen dazu, dass informelle, zufällige und nicht überwachbare Begegnungen fast gar nicht mehr stattfinden. Eine mögliche Konsequenz davon ist, dass sich Widerstand gegen potentielle Ungerechtigkeiten, problematische oder fehlende Inhalte, schlechte Bedingungen und ähnliches kaum mehr organisieren lässt (oder ganz neue Wege finden muss). Teile und herrsche in einer ganz neuen Ausprägung.

5. Punkt: Erweiterte Kontrollmöglichkeiten

Was auch immer im digitalen Raum stattfindet, kann 1) potentiell für immer gespeichert und 2) immer digital analysiert und ausgewertet werden. Dinge „versenden“ sich nicht, und das kann dazu führen, dass Einzelne sich besser überlegen, was wo und wie sie etwas äußern. Vielleicht wird dadurch die Hürde höher, Fragen zu stellen oder abweichende Meinungen kundzutun? Werden durch diese Tatsache innere Zensurmechanismen verstärkt? Entsteht dadurch unter Umständen auch ein grundsätzlich höherer Arbeitsaufwand? Leidet die Lebendigkeit akademischer Diskussionen darunter?

6. Punkt: Fluch und Segen der Asynchronizität

Die Möglichkeit, das Arbeitspensum stärker an den eigenen zeitlichen Verfügbarkeiten ausrichten zu können, wenn Lehrveranstaltungen keine Präsenzveranstaltungen sind, schafft natürlich verbesserte Bedingungen für Menschen, die Studium oder Lehre (besonders in Zeiten von Covid-19) zum Beispiel mit Kinderbetreuung, der Pflege von Angehörigen oder einer Berufstätigkeit vereinbaren müssen. Hieraus könnten bessere Zugangsmöglichkeiten für bislang benachteiligte soziale Gruppen zu universitärer Bildung entstehen. Doch wie können asynchrone Formen lebendigen Austauschs aussehen? Was braucht es, um auch unter diesen Bedingungen die Begegnung mit anderen zu fördern?

Ausblick

Die Möglichkeiten der Digitalisierung sind, auch im Bereich universitärer Lehre, immens. Leider bieten sie auch ein Einfallstor für feindliche Übernahmen durch ökonomische Interessen und für Einschränkungen der geistigen Freiheit. Sich über solche Gefahren im Detail bewusst zu werden, ist ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung von Konzepten, die wissenschaftlicher Arbeit und demokratischen Bewegungen dienen, und nicht ihren Feinden.

Ich würde hierfür gerne Kriterien sammeln und hoffe daher auf eure Rückmeldungen. Wie habt ihr, sofern ihr betroffen seid, die Digitalisierung der Lehre erlebt? Wo seht ihr Gefahren und Risiken, wo Verbesserungen und Potentiale?

Im Hinblick auf den nächsten Beitrag zu diesem Thema würde mich auch interessieren: mit welchen Formaten der digitalen Lehre (und das kann gerne auch home schooling außerhalb der Uni betreffen) habt ihr gute, und mit welchen eher schlechte Erfahrungen gemacht? Was fehlt? Wie soll es eurer Meinung nach weitergehen mit der Digitalisierung im Bildungswesen?

Einheitslohn! zum 1. Mai 2020

Für alle? Ja, für alle! Denn eine Stunde Lebenszeit ist eine Stunde Lebenszeit, egal ob für die Care-Arbeiterin, die Professorin oder die IT-lerin! Vielleicht nicht ganz egal, ob jung oder alt? Und woher kommt dann der Anreiz, den eigenen Job gut zu machen und Verantwortung zu übernehmen? Und was hat Systemrelevanz damit zu tun?

Argumete für den Einheitslohn

Neben der mir nur gerecht scheinenden Vorstellung, dass letztlich die Zeit be/entlohnt werden sollte, die jede*r in – gesellschaftlich gewollte – Arbeit steckt, und zwar für alle gleich, gibt es noch ein paar weitere Argumente für den Einheitslohn. Komplizierte Tarifverhandlungen, Beitragsberechnungen und Steuerregelungen könnten stark vereinfacht werden. Keine*r müsste aus finanziellen Gründen eine Arbeit machen, die ihr oder ihm gar nicht (oder nicht mehr) liegt (in Kombination mit einem – niedriger anzusetzenden – Grundeinkommen erst recht nicht). Auch mit Care-Arbeit könnte ein Lebensunterhalt bestritten werden. Ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern sowie Hierarchien zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen gehörten der Vergangenheit an – alle verdienten denselben Respekt und hätten dieselben Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten. Die Frage danach, wer bestimmt, welche Arbeit in der Gesellschaft insgesamt überhaupt gemacht werden muss/sollte, käme aufs Tablett.

Aber Verantwortumg!?

Aber, höre ich Einwände, Leistung muss sich doch auch lohnen! Und lange Ausbildungszeiten! Und die Übernahme von besonderer Verantwortung!

Mögliche Antworten auf diese Fragen aus der konkreten Praxis sind zum Beispiel in diesem Erfahrungsbericht über eine Hamburger Firma enthalten. Hier werden Menschen aus einem Hamburger Unternehmen interviewt, das das Modell Einheitslohn seit Jahren praktiziert, und zwar erfolgreich, sowohl betriebswirtschaftlich als auch von der Zufriedenheit der Beschäftigten her.

Dort wurde über Verantwortung intern diskutiert. Als der Lkw-Fahrer für sich geltend machte, dass er auch Verantwortung trage, nämlich dafür, dass die Ware am Ende heil und pünktlich bei der Kundschaft ankomme, wurde allen Beteiligten klar, dass das Geschäft nur dann funktioniert, wenn jede*r an ihrem/seinem Platz Verantwortung für die eigene Aufgabe übernimmt. Es gibt also gar keine einzelne, herausgestellte Position, der allein für das Thema Verantwortung eine besondere Entlohnung gebührt – vielmehr sind Erfolg oder Misserfolg von allen am Produkt Beteiligten gemeinsam zu verantworten.

Nicht ohne soziale Grundsicherungen!

Trotzdem ist diese Hamburger Firma für mich kein Vorbild, denn dort findet das Prinzip der einheitlichen Entlohnung außerhalb eines sozial gesicherten Rahmens statt, konkret: ohne, dass die Mitarbeitenden sozialversichert sind. Das finde ich gefährlich und unpolitisch. Mir scheint im Gegensatz wichtig: Arbeit generell und Einheitslohn im Besondren geht nicht ohne eine soziale Grundsicherung, besser noch ein bedingungsloses Grundeinkommen, und nicht ohne einen gesicherten Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen für alle. Ganz kurz gesagt (und dazu ließen sich ganze Artikel schreiben): Grundeinkommen für alle, die nicht arbeiten können, ein Gesundheitssystem, das allen hilft, die es brauchen, und was die Bildung angeht…

Bildung

Stand jetzt sind Bildungschancen eng mit Herkunft sprich finanziellen Möglichkeiten und Ansprüchen der Eltern verknüpft. Dies könnte durch ein gesichertes Grundeinkommen und einen allgemeinen Zugang zu Bildung umgangen werden. Und wenn alle studieren können, die das wollen (und wann sie wollen), dann wäre einerseits der akademische Nachwuchs ( z.B. in Schulen und Medizin) gesichert, andererseits fiele das Argument weg, dass längere Ausbildungen ein höheres Gehalt rechtfertigen, denn sie wären/sind ja gesellschaftlich finanziert.

Dieser Gedanke passt gut zu Zeiten, in denen nicht zuletzt technologische Entwicklungen ständige Veränderung in der Arbeitswelt erfordern. Der Gedanke ist auch nicht neu. Bereits im kleinen Band „Von der Freundschaft – Michel Foucault im Gespräch“ von 1984 las ich:

Foucault: „Ich glaube jedenfalls, daß eine fruchtbare Kritik nicht mit den ständigen Klageliedern der Leute zu vermengen ist. Was die konkreten Vorschläge angeht… vor allem dies: daß das Recht auf Wissen nicht einem Lebensalter und bestimmten Kategorien von Individuen vorbehalten sein darf, sondern dass man es ohne Stillstand und in vielfältigen Formen muß ausüben können.“ Christian de la Campagne (Le Monde): „Ist dieser Wissensdurst nicht zweideutig? Was sollen die Leute denn schließlich mit all dem Wissen machen, das sie bekommen?“ Foucault: „…Heute müsste man den Unterricht so gestalten, dass er dem Einzelnen ermöglicht, sich nach eigenem Ermessen zu verändern, was aber nur unter der Bedingung möglich ist, dass die Lehre eine ‚permanent‘ angebotene Möglichkeit ist.“

Dienst nach Vorschrift bringt niemanden weiter

Ein anderes funktionierendes Beispiel für ein bereits mit Einheitslohn arbeitendes Unternehmen wurde in der Süddeutschen vorgestellt. Ich empfehle den lesenswerten Bericht auch wegen der darin enthaltenen Kritik an dem neoliberalen Kurs der Gewerkschaften, die Machtstrukturen und Hierarchien viel grundsätzlicher in Frage stellen sollten. Der hierarchische Führungsstil in Unternehmen wie in Gewerkschaften führt nur dazu, dass die Menschen Dienst nach Vorschrift machten, wird einer der Gründer des Unternehmens zitiert. Sein Fazit: „Das bringt die Unternehmen aber nicht weiter.“ Eine andere Folge: Vereinzelung, Standesdünkel und Frust statt gleicher Rechte und Solidarität auch unter den Beschäftigten.

Basisdemokratie und Einheitslohn

In beiden erwähnten Beispielen ist die Einführung eines Einheitslohns eng mit basisdemokratischen Organisationsstrukturen verknüpft, und das ist, denke ich, gut so. Vielleicht auch anders gar nicht machbar. Denn nur so können alle in das Gefühl von Gerechtigkeit hineinwachsen, immer wieder neu, in der direkten Auseinandersetzung mit den anderen, die es betrifft. Damit Neid und Missgunst, das Gefühl, übervorteilt zu werden oder einfach Unzufriedenheit gar nicht erst aufkommen können, braucht es Transparenz und Durchlässigkeit. Fragen müssen diskutiert und gemeinsam beantwortet werden, aber eben auch gestellt – und so wären alle gleichermaßen in der Verantwortung für das, was passiert.

Systemrelevantes Fazit

Einheitslohn ist ein Konzept, das sich im Kleinen (also in einzelnen Unternehmen) jetzt sofort beginnen lässt und das im Großen schließlich seine ganze Sprengkraft beweisen könnte. Wenn alle bewusst Teil am Erfolg oder Misserfolg des Ganzen haben – das Ganze ist auf verschiedenen Ebenen gedacht das Unternehmen genauso wie die Gesellschaft mit all ihren Gemeinschaftseinrichtungen wie Gesundheitssystem und Bildung -, dann gibt es keine Rechtfertigung mehr für Standes- oder Gehaltsunterschiede. Wenn alle gleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Konsum und Bildung haben, auch nicht für Neid und Hass. Die Unternehmen würden denen gehorchen, die darin Verantwortung übernehmen, sprich arbeiten. Alle zusammen würden wir entscheiden, was wir für systemrelevant, heißt: entlohnenswert, halten, und was nicht. Diese Arbeiten würden wir uns untereinander gerecht aufteilen. Wer mehr arbeitet als durchschnittlich erforderlich, bekommt mehr Geld, wer nicht arbeiten kann, weniger, aber nie nix. Wahrscheinlich käme keine 40-Stunden-Woche dabei raus- stattdessen hätten die meisten bei gleicher Verteilung der erforderlichen Arbeit viel mehr Freizeit als bisher. Wir alle, die wir hier leben (egal ob mit oder ohne Papiere) könnten gemeinsam die Welt gestalten, wie sie uns gefällt. Und Pippi Langstrumpf unseren Präsidentinnenpalast widmen.

Ps: für Risiken und Nebenwirkungen in Bezug auf den Kapitalismus fragen Sie Ihre Ärztin, Ihren Apotheker oder irgendeine*n andere/n, der/dem Sie vertrauen!

Das ist meine Meinung. Ich habe mich Anfang dieses Jahrhunderts einmal für einen Job beworben, nur weil in der Stellenausschreibung Einheitslohn und kollektive Selbstverwaltung in Aussicht gestellt wurden. Heute bin ich anderswo angestellt und gehaltsmäßig vielleicht eher in der oberen Mitte, wäre aber jederzeit bereit, weniger Lohn zu akzeptieren, wenn ein Mittelwert berechnet würde und alle dasselbe bekämen. Wie seht ihr das? Was denkt ihr zum Thema Einheitslohn? Meint ihr auch, das wäre gesamtgesellschaftlich eine gute Idee?

Fran Kiss Stein – Mary Shelley und die Monster der KI

Jeanette Winterson kann schreiben und interessiert sich für vieles, was auch mich interessiert: KI und ihre Monster, Literatur, gewitzte Frauen und ihre Lebensbedingungen und Geschichten. In ihrem aktuellen Roman Fran Kiss Stein geht es daneben auch um Transgender. Es geht um die Vision des Transhumanismus. Letztlich immer wieder um das Verhältnis von Körper und Geist/Bewusstsein.

Winterson erkundet auf ganz verschiedenen Ebenen die Fragen, die sich aus diesem Verhältnis ergeben. Freude und Leid der an einen bestimmten und vergänglichen Körper gebundenen Seele. Macht und Ohnmacht des Geistes über den Körper. Den Drang, die Beschränkungen des Körpers zu überwinden.

Es geht am Ende auch kurz um Unterschiede zwischen maschineller und menschlicher Intelligenz. Wobei mir das leider am wenigsten gründlich untersucht zu sein scheint und dazu noch in eine gleichermaßen elitäre wie anthropozentristische Sichtweise weist.

„Nur der menschliche Geist ist zu dem Gedankensprung fähig, der Genialität ausmacht.“, lässt Winterson da Ada Lovelace sagen, die erste Software-Entwicklerin der Geschichte. „Aber seien wir ehrlich, welcher menschliche Geist ist schon genial? Die meisten nicht, und sie brauchen auch keine Genialität. Was sie brauchen, sind Instruktion und Information. Und das würde die Maschine ermöglichen.“

Diese Aussage (immerhin den Anfängen der Entwicklung von Computern zu Beginn des 19. Jh. zugeordnet) steht zwar Bildern von Robotern gegenüber, die komplexe medizinische Analysen durchführen, die ohne ihren Einsatz gar nicht möglich wären, aber sie bleibt dennoch irgendwie unwidersprochen im Raum stehen.

Was mir bei all den Erkundungen rund um Körper und Geist außerdem noch viel zu kurz kam, war die Gegenfrage: inwiefern bestimmen Körper und erlebter Leib die Inhalte des Geistes/Bewusstseins? Und was bedeutet das im Hinblick auf künstliche „Intelligenzen“?

Trotzdem habe ich das Buch über die weitesten Strecken sehr gerne gelesen. Es hat mich inspiriert und von Corona abgelenkt. Und das ist doch schon sehr sehr viel.

An dieser Stelle wollte ich eigentlich Schluss machen. Das wäre ein sehr abruptes Ende dieses Beitrags, meinte meine Liebste, schreib doch etwas mehr darüber, was dir denn dann gefallen hat. Also gut 😉

Die Personen der Handlung sind toll gewählt! Neben Mary Shelley und Lord Byron, Ada Lovelace und Viktor Frankenstein kommen unter anderem ein geistig nicht immer sehr heller, aber erfolgreicher Verkäufer von Sexbots, eine devote evangelikale Gottesanbeterin, und ein Ich-Erzähler vor, der im Körper einer Frau geboren wurde, diesen an sein eigenes Empfinden anpassen ließ und nun in einem das binäre Denken seiner Mitmenschen irritierenden Körper lebt. Sie alle treffen in unterschiedlichen, teils abstrusen Konstellationen immer wieder aufeinander, was Vielseitigkeit und eine gewisse Komik garantiert!

Jeanette Winterson: Fran Kiss Stein. Übersetzt von Michaela Grabinger und Brigitte Walitzek. Erschienen bei Kein & Aber, 2019. Erhältlich in eurem örtlichen Buchladen – der gerade jetzt Unterstützung braucht!

Auf ein gutes neues Jahr!!!

Das Jahr auf diesem Blog fängt mit zwei guten Nachrichten an: ab sofort seht ihr hier keine Werbung mehr – und: so langsam wachen auch maßgebliche offizielle Stellen auf und stellen sich ihrer Verantwortung bezüglich der Nutzung von Social Media! Ich freue mich sehr über die Nachricht, dass der Landesdatenschutzbeauftragte von Baden-Württemberg, Stefan Brink, angekündigt hat, wegen rechtlicher Bedenken seinen Twitter-Account nicht mehr nutzen zu wollen. Und nicht nur das: er stößt damit einen Prozess an, der Behörden und andere öffentliche Einrichtungen dazu zwingen wird, ihren Social Media Einsatz ebenfalls zu hinterfragen und im besten Fall auch zu ändern. Und das finde ich gut so. Denn – und da bin ich ganz bei Stefan Brink – indem wir relevante Informationen über Dienste zur Verfügung stellen, die im Hintergrund auf problematische Art Nutzer*innendaten sammeln, bringen wir andere dazu, diese zu nutzen und dabei womöglich ungewollt private Daten preiszugeben. Wir stärken damit Konzerne und Mechanismen, die niemandem gut tun außer sich selbst.

Zwei Dinge möchte ich mir dann fürs neue Jahr noch wünschen: dass sich genug schlaue Köpfe zusammenfinden, um unabhängige, unkommerzielle und sichere Kommunikationskanäle anbieten zu können – Social Media eben, aber ohne Kommerz und Ausbeutung. Und dass dann auch immer mehr Menschen auf diese umsteigen!

Halten wir uns gegenseitig auf dem Laufenden, was solche Entwicklungen angeht! (A propos: was dieses Jahr so beim CCC-Kongress los war, findet ihr in Ausschnitten hier.…) Machen wir mit! Und freuen wir uns gemeinsam auf ein gutes neues Jahr!

UnFAIRe Bürgerwissenschaften

Unter dem Label „Bürgerwissenschaften“ oder “Citizen Science” werden derzeit Menschen wie du und ich zum Datensammeln animiert. Was dahinter steckt, was daran gar nicht FAIR ist, und was Daten- von Pilzsammler*innen lernen könnten, darüber schreibe ich in diesem Artikel.

Mykologie – Pilzkunde – war schon immer “Citizen Science”, zumindest, wenn wir den Begriff “Citizen” hier nicht überstrapazieren wollen. Menschen haben hier und in vielen anderen Teilen der Welt schon immer Pilze gesucht und gesammelt. Pilze werden und wurden gegessen, zu Heilzwecken oder in spirituellen Zeremonien verwendet. Manche sind essbar, andere giftig, manche helfen beim Bierbrauen oder Backen, andere beim Feuermachen.

Um für die gewünschten Zwecke den jeweils richtigen Pilz zu finden, ist es wichtig, einiges über Pilze zu lernen: wie sie aussehen, in welchen winzigen Details sich die einen von den anderen unterscheiden, wann und wo sie auftauchen, wann und wo es keinen Sinn macht, sie zu suchen und vieles mehr. Menschen, die solches Wissen erworben hatten, gab es lange bevor die akademischen Wissenschaften auf den Plan traten, wo die Welt der Pilze bis ins 18. Jahrhundert ein Randgruppendasein im Schatten der Botanik fristete.

Später wurde den Pilzen, zu denen auch Hefen und Schleime gehören, ihr eigenes taxonomisches Königreich gegeben – denn nach geltenden Definitionen sind sie weder Tier noch Pflanze. Tiere bewegen sich selbständig, Pilze breiten sich aus: der größte und älteste lebende Organismus der Erde ist ein Hallimasch – er ist über 900 qkm groß und mehr als 2000 Jahre alt. Während jedoch Pflanzen Fotosynthese betreiben und damit ihre Nahrung selbst herstellen, ernähren sich Pilze indem sie Enzyme ausscheiden – sie verdauen außerhalb ihres Körpers. Auf diese Art zersetzen sie totes wie lebendes Material und machen die Nährstoffe (z.B. Mineralien) daraus für sich selbst oder Partnerwesen (Moose, Flechten, Pflanzen, Tiere) verfügbar. Doch welche Bedeutung ihnen damit zukommt, wurde nicht durch systematisch- wissenschaftliche Beschreibung, sondern per Zufall erkannt. Die Entdeckung des Penizillins erweiterte den wissenschaftlichen Horizont nicht nur auf medizinischem Gebiet.

Pilze waren und sind große Zerstörer*innen und Gestalter*innen unserer Welt. Ohne sie wäre an Land kein Leben entstanden oder es wäre schon längst wieder am eigenen Abfall erstickt. Es gibt Grund zur Hoffnung, dass einige Pilze eines Tages auch mit unserem Plastikmüll klarkommen werden .

Bürger*innen, die viel zu selten als Expert*innen jenseits akademischer Welten betrachtet werden, haben vielleicht auch dies irgendwo anders in der Welt schon längst beobachtet, zum Beispiel auf den Müllbergen indischer Großstädte. Genauso wie die antibiotische Wirkweise von bestimmten Pilzen in China bereits vor Jahrhunderten genutzt wurde .

Um die Probleme unserer Welt zu lösen ist es wichtig, dass solcherart Wissen zugänglich und damit global nutzbar gemacht wird. Im besten Fall profitieren alle davon, im schlechtesten haben wir auf anderer Ebene versagt, was hier aber nicht Thema sein soll.

These 1:

Am Anfang war “Citizen Science”. Es gibt auch heute jede Menge Wissen und Wissensproduktion außerhalb der akademischen Wissenschaften. Dieses Wissen zu erschließen kann gesellschaftlich von großem Nutzen sein.

“Citizen Science” als Grundlage für automatisierte Wissensproduktion.

Was also soll dieses neue Label “Citizen Science”? Wer meint was damit? Und zu welcher Form der Wissenschaft wird das führen?

Dem Positionspapier des Directorate-General for Research and Innovation der Europäischen Kommision von 2016 wird allen Überlegungen ein Vorwort ihres damaligen Präsidenten, Jean-Claude Juncker, vorangestellt, das mit den Worten beginnt: “Research and innovation create investment opportunities” [EU, 2016, S.5]. Um dies und nichts anderes geht es. Das Problem, um das in diesem Bericht alles kreist, ist die Tatsache, dass Europa a) in Sachen Wissenschaft weltweit nicht an der Spitze steht und b) die zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht schnell genug und nicht in für die Autoren (men only) ausreichendem Maße in Geld umwandeln kann. Die vorgeschlagene Lösung des Problems: Forschung standardisieren und damit für Startups leicht nutzbar machen. Dass damit gleichzeitig ein Heer unbezahlter Mitarbeiter*innen rekrutiert wird, das teure akademische oder unternehmerische Feldforschung zunehmend überflüssig machen könnte, ist demgegenüber wahrscheinlich nur ein angenehmer Nebeneffekt.

Ähnlich wie die Verlagerung von bezahlter Care-Arbeit auf das Ehrenamt, könnte diese Strategie auch im Bereich der Wissenschaften funktionieren, weil es die Menschen bei ihrem Wunsch nach Anerkennung und nach sinnvoller Beschäftigung packt.

Unter “Citizen Science” und den als solchen öffentlich geförderten Projekten sind also mit der EU-Strategie solche zu verstehen, die Bürger*innen jenseits des etablierten Wissenschaftsbetriebs die Möglichkeit zur Beteiligung bieten, und die am Ende standardisierte, d.h. direkt für die ökonomische Verwertung aufbereitete Daten liefern. Die Anforderungen an die entsprechende Wissensproduktion werden dabei ausgerechnet unter dem Label FAIR („findable, accessible, interoperable and reusable“) zusammengefasst.

Diese Forderungen sind mit Hilfe aktueller Technologien leicht umzusetzen. Sehen wir uns die Projekte an, die auf der deutschen Citizen Science Plattform „Bürger schaffen Wissen“ aufgelistet werden, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass die Teilnahme meist über Apps oder Online-Formulare erfolgt.

Wo dies ausschließlich der Fall ist, finden gesellschaftsrelevante und gemeinschaftsbildende Effekte, mit denen „Citizen Science“ oft verbunden wird, überhaupt nicht mehr statt [vgl. Kinchy und Kimura, 2016].

Ein typisches „Citizen Science“-Projekt im Bereich der Pilzkunde, ist der „Pilzfinder“ der Universität Wien . Ein ähnliches Projekt gibt es in Deutschland , dort wird jedoch nicht ausdrücklich auf den Begriff „Citizen Science“ Bezug genommen.

Als Projektziele werden in beiden Fällen zwar Kartierung, Entdeckung neuer Arten, und ein Monitoring des Klimawandels genannt. Aber Mitmachen heißt letztlich Datensammeln. Die angebotenen Apps und Online-Formulare sorgen für die nötige Standardisierung und versehen Kamera-Aufnahmen gleich mit zuverlässigen GPS-Koordinaten und dem genauen Zeitpunkt der Aufnahme, und wer weiß, mit was für Daten aus dem Smartphone noch (aber ich will jetzt hier nicht über Datenschutz und Privatheit reden). Bei “Citizen Science”-Projekten in anderen Bereichen ist es genauso. Ambitionierte Bürger*innen können in ähnlicher Weise Wildtiere in der Stadt, Vogelstimmen, Insektenbilder und vieles mehr aufnehmen und verschicken.

Die so gesammelten und standardisierten Daten können genutzt werden, um Software zu trainieren. Dabei gilt: Je mehr Daten, desto besser “lernt” die Maschine.

Die Ergebnisse dieser Art des Lernens, also das, was “künstliche Intelligenz” am Ende hervorbringt, ist Mustererkennung. Dahinter stehen oft sehr komplexe mathematische Funktionen, aber nur selten in Worte fassbare und damit nachvollziehbare und hinterfragbare Erkenntnisse. Funktionieren tut dies allerdings häufig sehr gut. (Z.b. im Bereich der Spracherkennung. Früher hat die Linguistik nach den universellen Regeln zur formalen Analyse von Sprache gesucht, bis Google und andere, die über den nötigen Datenkorpus verfügten, mit ihren auf Wahrscheinlichkeitsrechnung basierenden Algorithmen in kürzester Zeit viel bessere Ergebnisse vorlegten).

Heute werden Computerprogramme noch zum allergrößten Teil von Menschen geschrieben. Aber schon wird daran geforscht, selbst die Programmierung zu automatisieren. Mit den online verfügbaren riesigen Mengen an Quellcode (Open Source sei Dank) werden Maschinen trainiert mit dem Ziel, auch Software künftig maschinell zu entwicklen. Auf dieselbe Art könnte sich auch wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung automatisieren lassen. Doch zu welchem Preis?

Cathy O‘Neill hat in ihrem Buch „Weapons of Math Destruction“ [O’Neill, 2016] ausführlich dargelegt, wo die gesellschaftlichen und erkenntnistheoretischen Gefahren maschinellen Lernens liegen: in der möglichen Perpetuierung von Vor- und Fehlurteilen, in der Verschleierung eben dieser, in einem zunehmenden Verlust von Transparenz und demokratischen Einflussmöglichkeiten.

These 2:

Hinter “Citizen Science” steht in der EU in erster Linie ein ökonomisch motiviertes Datensammlungsprojekt.

These 3:

Die Sammlung immer größerer Mengen standardisierter – im EU-Sprech „FAIRer“ – Daten ist zugleich die Voraussetzung für die Automatisierung von Wissensproduktion.

These 4:

In Zukunft werden nicht mehr Menschen darüber bestimmen, was für Erkenntnisse aus Daten generiert werden. Nur noch wenige Menschen werden diese Erkenntnisse verstehen, hinterfragen und beurteilen können.

These 5:

Damit ist „Citizen Science“ letztlich ein Angriff auf Transparenz und das Gegenteil von einer Demokratisierung der Wissenschaften.

Anderes Wissen ist möglich und nötig.

Pilzesammeln als besseres Modell für die Betrachtung der Welt.

Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing hat in ihrem wunderbaren, der Philosophin Donna Haraway gewidmeten Aufsatz “Mushrooms as Companion Species” [Tsing, 2012] eine ganz andere Art von Erkenntnisprozess geschildert, der das Finden von Pilzen begleiten kann. Dieser Erkenntnisprozess beginnt mit der Freude, vielleicht der Dankbarkeit über unseren Fund. Die meisten Pilze lassen sich nicht züchten, wir müssen sie suchen, und wenn wir sie dann entdecken, erleben wir die Begegnung mit ihnen oft als Geschenk. Pilze sind kein Privateigentum, wir können sie nicht kaufen, um ihnen zu begegnen müssen wir sie kennenlernen. Wir machen uns mit der Umgebung vertraut, in der Hoffnung, sie das nächste Mal noch gezielter suchen zu können, denn viele Pilze leben in Partnerschaft mit bestimmten Pflanzen, bevorzugen bestimmte Böden oder Witterungsverhältnisse.

Wer Pilze beobachtet kann auch die Auswirkungen menschlichen Handelns beobachten. Wo Getreide und anderes in Monokultur angebaut wird, wo Landwirt*innen mit stickstoffhaltigem Dünger arbeiten, wo Forstwirt*innen durch den Einsatz schwerer Maschinen den Boden verdichten, da werden Pilzfunde selten, die ökologischen Folgen unseres gesellschaftlichen Handelns spürbar. Die Bedeutung der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Wesen, für die wir Menschen oft blind sind, kann beim Pilzesammeln ganz unmittelbar erfahren werden.

Und hier reden wir nur von den sogenannten Großpilzen, denjenigen, deren Fruchtkörper wir sehen können, nicht von den unzähligen Arten, die ungesehen in und mit uns auf diesem Planeten leben.

These 6:

Auch im Bereich der Wissenschaften bedrohen Monokultur und zunehmende Reduzierung der Artenvielfalt unsere Existenz.

These 7:

Die Beschäftigung mit Pilzen führt uns direkt über eine ego- oder anthropo-zentrische Weltsicht hinaus in Erfahrungswelten des Miteinander und der unauflöslichen Verflechtungen, die zugleich Leben und Vergehen bringen, und deren Zukunft wir nicht kennen, sondern mit-erschaffen.

Und hier käme vielleicht auch noch einmal Paul Feyerabend zum Einsatz, der ja – nicht als einziger in der Geschichte, aber unermüdlich – darauf hingewiesen hat, dass qualitative Fortschritte in den (Theoriebildungen der) Wissenschaften gerade nicht auf geflissentlich befolgten Regeln und Standards, sondern auf dem Bruch mit der herrschenden Norm, dem plötzlichen Wechsel der Gangart und der Entdeckung radikal anderer Sichtweisen beruhen [Feyerabend, 1980]. Oder, wie Pilzsammler*innen sagen würden: spannend wird es jenseits der bekannten Wege, da wo niemand vor uns war, in den realen, mit allen Sinnen erfahrbaren, unermesslichen Verflechtungen des Lebens.

Literatur

Directorate-General for Research and Innovation (European Commission): Open Innovation, Open Science, Open to the World: a Vision for Europe, 2016.

Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen, 1980.

Aya H. Kimura und Abby J. Kinchy : Citizen Science: Probing the Virtues and Contexts of Participatory Research, 2016.

Cathy O’Neil: Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy. USA, 2016 .

Anna Tsing: Unruly Edges: Mushrooms as Companion Species. Department of Anthropology, University of California, Santa Cruz, USA, 2012. (Online unter http://tsingmushrooms.blogspot.com/, abgerufen am 23.7.2019)

Smart Houses, Smart Cars und eine etwas unsmarte Geschichte

Immer neugierig, was es abseits des Mainstreams zu lesen gibt, habe ich meinem Lesekreis das Buch Adrian oder die unzählbaren Dinge vorgeschlagen. Die Lektüre war für uns alle dann aber leider eher mühsam als begeisternd. Schade, denn die Idee, die die österreichische Autorin Angelika Stallhofer da hatte, war vielversprechend.

Das Setting, ein Smart Home, das uns dazu gebracht hatte, dem Roman ein zeitgemäßes Thema zu unterstellen, blieb jedoch nur Staffage und Klischee (Symbol für Reglementierung, vorgegaukelte Sicherheit, Aussparung alles Lebendigen – und der Gegenpol natürlich: die Künstlerin, die mit IT und Technik nichts am Hut hat – gähn…).

Dabei steckt in der ganzen Debatte über “smarte“ Technologien viel mehr Potenzial, viel mehr Fragen, über die wir uns dringend unterhalten sollten. Denn das Risiko liegt vor allem da, wo uns von Maschinen Entscheidungen abgenommen werden. Mit diesem Thema setzt sich zum Beispiel Cathy O’Neil auseinander, die ich bereits in meinem Alexa Beitrag erwähnt habe.

Eine andere Möglichkeit, sich mit der Komplexität dieser Fragestellung zu befassen, bietet die Moralmaschine des MIT. Auf einer Webseite wird dort anhand einer Hand voll von Szenarien immer wieder die Frage gestellt: wie würden Sie entscheiden? Zb. Wie sollte ein selbst fahrendes Auto entscheiden, wenn es vor der Wahl steht, entweder zwei Omas oder eine Mutter mit Kind zu überfahren . Interessant ist dabei vor allem, dass deutlich wird, wie weit Maschinen künftig in unser Leben eingreifen werden. In smarten Häusern, smarten Autos, smarten Städten.

Von all dem war im Roman leider nicht die Rede. Toll fanden wir vor allem die liebevolle Gestaltung des gebundenen Buchs: auf dem Einband Botticellis Venus, die ersten Seiten und die Überschriften kunstvoll verziert. Was jedoch zum Inhalt, dem verzweifelten Stammeln eines minder begabten Werbetexters inmitten einer Schaffens- und Lebenskrise kaum passt. Ansonsten ist zur Sprache des Romans noch zu sagen, dass mit sehr vielen Bildern und stellenweise komplexen Bezügen gearbeitet wird, wobei die Bezüge manchmal verwirren und die Bilder den Text mitunter überfrachten. Stattdessen hätten wir uns in der Geschichte lieber etwas mehr Dynamik gewünscht. Room for improvement, aber einen Versuch war’s wert!

Alexa ist KI für Dummies

Nein, sie sind nicht smart, die Geräte, die uns jetzt als solche verkauft werden sollen. Womöglich gar als Weihnachtsgeschenke. Da wüsste ich bessere. Zum Beispiel das Buch „Weapons of Math Destruction“ (auf Deutsch: „Angriff der Algorithmen„) der US-amerikanischen Mathematikerin Cathy O’Neil. In diesem Buch wird verständlich und sehr anschaulich beschrieben, was das Problem daran ist, wenn wir immer mehr Antworten auf unsere Fragen so genannten KI-Systemen überlassen (KI steht für „Künstliche Intelligenz“).

Dazu muss man zunächst wissen, wie diese Systeme heute funktionieren. Sie „verstehen“ nämlich nicht, haben also keine interne Vorstellung von Bedeutungen, sondern analysieren und bewerten Daten allein auf Grund von Ähnlichkeiten zu den immensen Mengen an Trainingsdaten, mit denen sie zuvor gefüttert werden mussten. Damit das System mir zb aus einer Menge Fotos diejenigen Fotos auswählt, auf denen eine „schöne Frau“ zu sehen ist, muss ich es zuvor mit tausenden von Fotos gefüttert haben, auf denen „schöne Frauen“ zu sehen sind. Und mit ebenso vielen, auf denen dies nicht der Fall ist. Zeige ich dem System dann ein neues Foto und frage: „Ist das eine schöne Frau?“ bekomme ich als Antwort die berechneten Wahrscheinlichkeiten für ja oder nein, also einen bestimmten Grad der Ähnlichkeit zu meinen Trainingsdaten. Was passiert also, wenn ich als Trainingsdaten nur oder vorwiegend Fotos von dünnen blonden Frauen eingegeben haben? Schwarze oder fülligere Frauen werden niemals als schön erkannt.

Wer sich für weitere Details interessiert und wer wissen will, wo derartige Algorithmen schon jetzt in unser tägliches Leben eingreifen, findet bei Cathy O’Neil einen guten Einstieg.

Noch dazu ist Alexa alles andere als „intelligent“ – der Gebrauch dieses Begriffs im Zusammenhang mit diesem Gerät ärgert mich geradezu. Auf die wenigsten Fragen bekommen wir eine befriedigende Antwort, stattdessen machen wir uns zum Deppen, in dem wir versuchen, das Gerät auf unsere Aussprache einiger weniger Befehle zu trainieren. Warum tun Menschen so etwas? Weil ihnen weisgemacht wird, dass sie damit ganz vorn wären in der Entwicklung der Zivilisation?

In Wahrheit bezahlen die Nutzerinnen und Nutzer dieser Systeme dafür, den Herstellern wertvolle Daten zur Verfügung zu stellen – zusätzlich zu ihren Vorlieben und Interessen zum Beispiel auch die eigene Stimme und Aussprache. Mit diesen Daten werden dann wieder neue Systeme trainiert. Und, eines Tages, werden wir anhand unserer Stimmen inmitten großer Menschenmengen identifiziert und verfolgt werden können. Schön blöd also. Im Vergleich dazu ist Alexa dann vielleicht doch nicht so dumm…

Cathy O’Neil: Angriff der Algorithmen. Wie sie Wahlen manipulieren, Berufschancen zerstören und unsere Gesundheit gefährden

    übersetzt aus dem Englischen von Karsten Petersen

  • Erscheinungsdatum: 21.08.2017 
  • 352 Seiten
  • Hanser Verlag