Altersdiskriminierung: Was ist die Antwort auf Ageism?

Ist euch in einer Diskussion schon mal ein Statement begegnet, das mit den Worten anfing „Ich möchte dir/Ihnen ja nicht zu nahetreten, aber WIR gehören noch/schon einer Generation an, die….“? Fühlt sich nicht gut an, oder? Egal, was danach kommt….

Der Grund ist, dass mit dieser Einleitung gleich einmal folgendes klargestellt wird: 1) Der/die Sprecher*in teilt Menschen nach ihrer Zugehörigkeit zu von ihm/ihr definierten Altersgruppen ein. 2) der/die Sprecher*in macht deutlich, dass Du nicht zu derselben gesellschaftlichen Gruppe gehörst wie sie/er, 3) der/die Sprecher*in gründet seine/ihre weitere Argumentation auf Stereotype bezüglich deiner Gruppe, 4) der/die Sprecher*in hält ihre/seine Position für überlegen.

Kurzum: die entstehende Situation ist für den/die Angesprochene einfach ätzend. Und wahrscheinlich wird das, was an Text dann noch folgt, vor Ärger oder Frust überhaupt nicht mehr richtig wahrgenommen.

Wie nun reagieren?

Mir fällt letztlich nur eine Möglichkeit ein, die für mich stimmig wäre: nämlich genau das ansprechen. Aber auch das fühlt sich scheiße an. Es bringt mich nämlich in die Situation, meine Verletzlichkeit zeigen zu müssen und mich damit vielleicht sogar noch verletzlicher zu machen. Ich habe Angst, damit die Vorurteile des/der Sprecher*in noch zu verstärken. Sie/er oder Dritte, die dabei sind, könnten mir vorwerfen, vom eigentlichen Thema des Gesprächs abzulenken. Ich will gar nicht als Person im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung mit so aggressiven Menschen stehen.

An dieser Stelle kann ich auch einmal Danke sagen. Denn Altersdiskriminierung ist eine Erfahrung, die sogar die machen können, die ansonsten eher auf der dominanten Seite stehen, wenn Menschen in Gruppen eingeteilt werden (z.b. nach Hautfarbe, Herkunft, Sexualität, etc). Und wenn eine*r erstmal weiß, wie scheiße es sich auf der anderen, der mindergeschätzten und stereotypisierten Seite anfühlt, dann sollte sie/er doch viel viel vorsichtiger werden in den eigenen Äußerungen und selber Diskriminierungen aller Art vermeiden. Wär jedenfalls schön.

So richtig weiß ich allerdings trotzdem noch nicht, wie ich beim nächsten Mal reagieren werde, wenn ich in eine solche Situation komme. Vielleicht habt ihr ja Tipps?

Update: Mal wieder in eine Bar!!!

Falls ihr meinen letzten Beitrag „Mal wieder in eine Bar gehen!“ nicht gefunden habt (ich hab ihn aus Versehen zunächst unter einem falschen Datum veröffentlicht), der richtige Link ist: https://prinzessinkarl.wordpress.com/2020/11/22/digital-bar/

Mal wieder in eine Bar gehen? Ist möglich!

Lange war es ruhig in diesem Blog: ich habe den Sommer so analog genossen wie nur möglich, denn ich hatte und habe die Schnauze ein wenig voll von digital…. Doch jetzt ist es abends schon dunkel, bevor ich überhaupt Feierabend mache, und die Möglichkeiten, außer Haus noch etwas zu erleben und Menschen zu sehen sind sehr sehr eingeschränkt. Und so fing der Herbst mit einem emotionalen Durchhänger an. Bis mir etwas begnete, was mich auf DIE suuuuuuuuuper Idee brachte…..

….Es war einmal ein Berliner startup namens yotribe, offensichtlich mit guten Beziehungen nach Darmstadt, wo ich es an der TU unter dem neuen und passenden Namen Wonder kennenlernte….

Wonder entwickelt digitale Räume. Räume, in denen sich Menschen frei bewegen, selbstbestimmt agieren und miteinander kommunizieren können, so wie „vor Corona“ auf den Plätzen der Innenstädte oder Szeneviertel, auf dem Weg zur Kantine, auf einer Party, oder eben in der Lieblingsbar an der Ecke.

Diese wundervolle Art der spontanen und oft unerwarteten Begegnung ist nämlich etwas ganz anderes als das, was wir Büromenschen seit Monaten in endlosen Teams- oder Zoom-Konferenzen ertragen müssen. Klar, auch die sind besser als nix, aber es fehlt so viel: mal kurz mit jemandem unter vier Augen scherzen, neue Leute kennenlernen, jenseits der offiziellen Tagesordnung auch noch das eine oder andere off-topic Gespräch führen, frei zwischen verschiedenen Gesprächspartner*innen wechseln, selbst(!)organisiert themenspezifische Kleingruppen bilden… Wonder ermöglicht sowas auch im Digitalen. Und als ich das gesehen habe, erinnerte ich mich an einen alten Traum und dachte….

ICH MACH NE BAR!!!

Auf Montagsbar.org könnt ihr lesen, wie das im Digitalen geht. Fakt ist: Corona hin oder her, wir müssen unser Feierabendbierchen nicht mehr alleine trinken! (Kaffee, Wasser oder Tee auch nicht! Bringt einfach mit, was ihr grad mögt!)

Schon die ersten Male haben gezeigt, dass das Konzept aufgeht: in meiner Bar haben sich Menschen wiedergetroffen, die weit weg voneinander leben und seit Monaten keine Gelegenheit hatten, sich zu sehen, Freundeskreise haben sich gemischt, neue kamen dazu, es gibt eine offene Bühne und in kleinem Kreis wurde auch zusammen getanzt. Viele empfinden die Bar, die jetzt regelmäßig auf hat (sonst wäre es ja keine Bar) genau wie ich als Rettung.

Erkennen, was die Rettung ist! Wenn Corona (oder auch andere widrige Umstände) physische Begegnungen erschweren, dann hilft nur Phantasie! Die digitale Bar ist auf jeden Fall ein Weg raus aus Isolation und Vereinsamung, raus aus der virtuellen Bubble und zurück in den lebendigen Austausch mit echten Menschen! Kennt ihr noch andere Wege? Dann teilt eure Ideen über die Kommentarfunktion!

Und schreibt mir an wirtin at montagsbar.org, wenn ihr mitmachen oder euch vernetzen wollt. (Wäre doch cool, wenn ne ganze Bewegung draus würde! Wir könnten auch Konzertreisen für Kleinkünstler*innen organisieren, die dann von Bar zu Bar tingeln, und und und…. so viele Möglichkeiten! Soll der blöde Corona-Winter doch kommen!)

Herzliche Grüße hinaus in die Welt! Bleibt gesund und munter und pflegt die Phantasie!

Warum individuelle Freiheit ein maskulinistisches Konzept ist

Das Pochen auf individuelle Freiheiten ist weder im Zusammenhang mit Corona noch im Hinblick auf die Zerstörung der Lebensbedingungen auf der Erde ein Merkmal konstruktiver Lösungsvorschläge. Nicht falsch verstehen: hier geht es nicht um den Ruf nach einer Diktatur. Sondern darum, dass wir dringend aufhören sollten, uns als einzelne, unabhängige Wesen zu verstehen. Leben ist, – genau wie Verstehen – nur in wechselseitiger Abhängigkeit und in Beziehung möglich.

Die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown hat sich in ihrem 1995 erschienenen und leider nie ins Deutsche übersetzten Buch States of Injury ausführlich mit dem Begriff der „individuellen Freiheit“ beschäftigt. Sie zeigt, dass dieser Begriff im Kontext des Liberalismus (als dem vorherrschenden Narrativ des Kapitalismus) systematisch auf der Unterordnung von Frauen basiert.

Ihre Kernthesen lauten:

1. Der Liberalismus baut auf einer klaren Arbeitsteilung auf.

2. Auf diese Weise ist es der Liberalismus, der gewisse Eigenschaften und Aktivitäten an Geschlechtszugehörigkeiten bindet, und zwar indem er diese Arbeitsteilung ideologisch mit „Natur“ begründet.

3. Die vermeintlich neutral verwendeten Begriffe des politischen Lebens („Freiheit“ und „Gleichheit“) verschleiern diese Ordnung der Gesellschaft und den dahinter stehenden Maskulinismus.

4. Feminismus innerhalb des Liberalismus kann nur existieren, indem die liberale Arbeitsteilung andere untergeordnete Gruppen anstelle der (bürgerlichen) Frauen einsetzt.

Folgendermaßen verläuft ihre Argumentation:

Historisch wurde mit dem Übergang vom Feudalismus zum Liberalismus und durch Industrialisierung und die Ausweitung kapitalistischer Produktionsweisen die Trennung zwischen familiengebundener Haushaltsarbeit und öffentlich sichtbarer Lohnarbeit immer schärfer. Dies führte zur Aufteilung der Gesellschaft in deutlich getrennte Sphären – auf der einen Seite Ökonomie und Zivilgesellschaft, auf der anderen die Familie.

Der Zivilgesellschaft und der Familie steht im Liberalismus der Staat gegenüber, der sich aus den anderen Bereichen rauszuhalten hat, solange dort nicht alle gegen alle kämpfen, denn der Mensch sei ja dem Menschen ein Wolf, so wird erzählt. Warum dieses Narrativ nicht für die Familie gelte, fragt Wendy Brown sodann. Weil es sich hier um eine Sphäre handle, in der Wettbewerb und Interessenkollisionen per Definition nicht vorkommen, denn es entspreche ja der „natürlichen“ Rolle von Frauen und Kindern, sich den Bedürfnissen und Interessen der Männer unterzuordnen und für deren Erhalt und gute Laune zu sorgen. Dafür stehe nicht zuletzt das Bild vom Hafen (der Ehe) inmitten der ansonsten stürmischen See des (zivilen, männlichen) Lebens.

Da das eine (kapitalistische Produktionsformen) nicht ohne das andere (Fürsorge und Reproduktion) funktioniert, wird die genderbasierte Zuschreibung von bestimmten Pflichten und Tätigkeitsbereichen zur unbedingten Voraussetzung für die Konstitution des liberalen, diese Produktionsformen bejahenden Subjekts.

Das liberale Subjekt als Basiseinheit liberaler Gesellschaftsvorstellungen ist ein Individuum, das als souverän und autark gilt. Bedürftigkeiten und Abhängigkeiten werden absichtsvoll ausgeklammert. Autarkie, das Handeln im eigenen Interesse, die Orientierung hin auf Dinge und Gewinn werden Männern zugeschrieben, weshalb Frauen, denen Zugehörigkeit, Bindung und Altruismus zugeschrieben und die als beziehungsorientiert gezeichnet werden, unsichtbar werden müssen.

Gleichheit gilt in der bürgerlich-liberalen Auffassung vor allem vor dem Gesetz, was im selben Zuge bedeutet, sie gilt dort nicht, wo das Gesetz nicht hinreicht, nämlich in der Familie. Wie Brown feststellt: „Liberalism, presuming rational men, has no theory of violence practiced for reasons-psychic, erotic, etc.-independent of material gain.“ (vgl. Brown 1995, 150). Genau in diesen Bereichen verfügt das liberale Subjekt, das also deutlich männlich konnotiert ist, über seine gefährliche Freiheit.

Wenn Frauen sich genauso autark, egoistisch, besitz- und gewinnorientiert verhalten wie Männer oder sich als Lesben oder bewusst männerlos lebende Frauen der Reproduktions- und Care-Arbeit verweigern, werden sie nicht nur kritisiert und diffamiert (und damit zurück an den ihnen zugedachten Platz verwiesen). Da, wenn das alle täten, die Gesellschaft als Ganze und die Familie im Besonderen nicht mehr funktionieren würde, ist ein solches Verhalten innerhalb der liberal gefassten Gesellschaft nur möglich, wenn und solange Frauen die doppelte Belastung auf sich nehmen, oder wenn die eigentlich ihnen zugeschriebenen Arbeiten von anderen, ebenfalls untergeordneten Menschen übernommen werden. Wie Brown später schreibt: „the emancipation of particular women can be ‚·purchased“ through the subordination of substitutes“ (Brown 1995, 164), beispielhaft hierfür steht die bürgerliche Frau, „as every middle and upper-class woman… has purchased her liberty, personhood, and equality through child care and ‚ household help‘ provided by women earning a fraction of their boss’s wage“ (Brown 1995, 164f). An dieser Stelle greifen Klassenunterschiede und Rassismus.

„Individuelle Freiheit“ und „Gleichheit“ erscheinen bei Brown – und der Ansatz überzeugt mich – als genuin liberale Konzepte, die unauflösbar mit Maskulinismus, Dominanz und Unterwerfung verbunden sind. Im Blick auf die Kolonialgeschichte wäre zu ergänzen: auch mit Rassismus.

Ein Denken, das darüber hinausgehen will, muss stattdessen Fürsorge, wechselseitige Abhängigkeiten und faktische Machtverhältnisse zum Ausgangspunkt nehmen.

Zu diesem Thema passt auch die aktuelle Ausstellung „Critical Zones“ im ZKM Karlsruhe, über die ich noch berichten möchte. Die Spur werde ich also weiterverfolgen – und wenn ihr wollt, nehme ich euch gerne mit!

Literatur:

Wendy Brown: States of Injury. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1995.

Critical Zones im ZKM Karslruhe:

Eine „digitale Gedanken-Ausstellung“ über den Umgang mit dem Leben, kuratiert unter anderem von dem sehr sympathischen Philosophen Bruno Latour: https://critical-zones.zkm.de

Einheitslohn! zum 1. Mai 2020

Für alle? Ja, für alle! Denn eine Stunde Lebenszeit ist eine Stunde Lebenszeit, egal ob für die Care-Arbeiterin, die Professorin oder die IT-lerin! Vielleicht nicht ganz egal, ob jung oder alt? Und woher kommt dann der Anreiz, den eigenen Job gut zu machen und Verantwortung zu übernehmen? Und was hat Systemrelevanz damit zu tun?

Argumete für den Einheitslohn

Neben der mir nur gerecht scheinenden Vorstellung, dass letztlich die Zeit be/entlohnt werden sollte, die jede*r in – gesellschaftlich gewollte – Arbeit steckt, und zwar für alle gleich, gibt es noch ein paar weitere Argumente für den Einheitslohn. Komplizierte Tarifverhandlungen, Beitragsberechnungen und Steuerregelungen könnten stark vereinfacht werden. Keine*r müsste aus finanziellen Gründen eine Arbeit machen, die ihr oder ihm gar nicht (oder nicht mehr) liegt (in Kombination mit einem – niedriger anzusetzenden – Grundeinkommen erst recht nicht). Auch mit Care-Arbeit könnte ein Lebensunterhalt bestritten werden. Ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern sowie Hierarchien zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen gehörten der Vergangenheit an – alle verdienten denselben Respekt und hätten dieselben Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten. Die Frage danach, wer bestimmt, welche Arbeit in der Gesellschaft insgesamt überhaupt gemacht werden muss/sollte, käme aufs Tablett.

Aber Verantwortumg!?

Aber, höre ich Einwände, Leistung muss sich doch auch lohnen! Und lange Ausbildungszeiten! Und die Übernahme von besonderer Verantwortung!

Mögliche Antworten auf diese Fragen aus der konkreten Praxis sind zum Beispiel in diesem Erfahrungsbericht über eine Hamburger Firma enthalten. Hier werden Menschen aus einem Hamburger Unternehmen interviewt, das das Modell Einheitslohn seit Jahren praktiziert, und zwar erfolgreich, sowohl betriebswirtschaftlich als auch von der Zufriedenheit der Beschäftigten her.

Dort wurde über Verantwortung intern diskutiert. Als der Lkw-Fahrer für sich geltend machte, dass er auch Verantwortung trage, nämlich dafür, dass die Ware am Ende heil und pünktlich bei der Kundschaft ankomme, wurde allen Beteiligten klar, dass das Geschäft nur dann funktioniert, wenn jede*r an ihrem/seinem Platz Verantwortung für die eigene Aufgabe übernimmt. Es gibt also gar keine einzelne, herausgestellte Position, der allein für das Thema Verantwortung eine besondere Entlohnung gebührt – vielmehr sind Erfolg oder Misserfolg von allen am Produkt Beteiligten gemeinsam zu verantworten.

Nicht ohne soziale Grundsicherungen!

Trotzdem ist diese Hamburger Firma für mich kein Vorbild, denn dort findet das Prinzip der einheitlichen Entlohnung außerhalb eines sozial gesicherten Rahmens statt, konkret: ohne, dass die Mitarbeitenden sozialversichert sind. Das finde ich gefährlich und unpolitisch. Mir scheint im Gegensatz wichtig: Arbeit generell und Einheitslohn im Besondren geht nicht ohne eine soziale Grundsicherung, besser noch ein bedingungsloses Grundeinkommen, und nicht ohne einen gesicherten Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen für alle. Ganz kurz gesagt (und dazu ließen sich ganze Artikel schreiben): Grundeinkommen für alle, die nicht arbeiten können, ein Gesundheitssystem, das allen hilft, die es brauchen, und was die Bildung angeht…

Bildung

Stand jetzt sind Bildungschancen eng mit Herkunft sprich finanziellen Möglichkeiten und Ansprüchen der Eltern verknüpft. Dies könnte durch ein gesichertes Grundeinkommen und einen allgemeinen Zugang zu Bildung umgangen werden. Und wenn alle studieren können, die das wollen (und wann sie wollen), dann wäre einerseits der akademische Nachwuchs ( z.B. in Schulen und Medizin) gesichert, andererseits fiele das Argument weg, dass längere Ausbildungen ein höheres Gehalt rechtfertigen, denn sie wären/sind ja gesellschaftlich finanziert.

Dieser Gedanke passt gut zu Zeiten, in denen nicht zuletzt technologische Entwicklungen ständige Veränderung in der Arbeitswelt erfordern. Der Gedanke ist auch nicht neu. Bereits im kleinen Band „Von der Freundschaft – Michel Foucault im Gespräch“ von 1984 las ich:

Foucault: „Ich glaube jedenfalls, daß eine fruchtbare Kritik nicht mit den ständigen Klageliedern der Leute zu vermengen ist. Was die konkreten Vorschläge angeht… vor allem dies: daß das Recht auf Wissen nicht einem Lebensalter und bestimmten Kategorien von Individuen vorbehalten sein darf, sondern dass man es ohne Stillstand und in vielfältigen Formen muß ausüben können.“ Christian de la Campagne (Le Monde): „Ist dieser Wissensdurst nicht zweideutig? Was sollen die Leute denn schließlich mit all dem Wissen machen, das sie bekommen?“ Foucault: „…Heute müsste man den Unterricht so gestalten, dass er dem Einzelnen ermöglicht, sich nach eigenem Ermessen zu verändern, was aber nur unter der Bedingung möglich ist, dass die Lehre eine ‚permanent‘ angebotene Möglichkeit ist.“

Dienst nach Vorschrift bringt niemanden weiter

Ein anderes funktionierendes Beispiel für ein bereits mit Einheitslohn arbeitendes Unternehmen wurde in der Süddeutschen vorgestellt. Ich empfehle den lesenswerten Bericht auch wegen der darin enthaltenen Kritik an dem neoliberalen Kurs der Gewerkschaften, die Machtstrukturen und Hierarchien viel grundsätzlicher in Frage stellen sollten. Der hierarchische Führungsstil in Unternehmen wie in Gewerkschaften führt nur dazu, dass die Menschen Dienst nach Vorschrift machten, wird einer der Gründer des Unternehmens zitiert. Sein Fazit: „Das bringt die Unternehmen aber nicht weiter.“ Eine andere Folge: Vereinzelung, Standesdünkel und Frust statt gleicher Rechte und Solidarität auch unter den Beschäftigten.

Basisdemokratie und Einheitslohn

In beiden erwähnten Beispielen ist die Einführung eines Einheitslohns eng mit basisdemokratischen Organisationsstrukturen verknüpft, und das ist, denke ich, gut so. Vielleicht auch anders gar nicht machbar. Denn nur so können alle in das Gefühl von Gerechtigkeit hineinwachsen, immer wieder neu, in der direkten Auseinandersetzung mit den anderen, die es betrifft. Damit Neid und Missgunst, das Gefühl, übervorteilt zu werden oder einfach Unzufriedenheit gar nicht erst aufkommen können, braucht es Transparenz und Durchlässigkeit. Fragen müssen diskutiert und gemeinsam beantwortet werden, aber eben auch gestellt – und so wären alle gleichermaßen in der Verantwortung für das, was passiert.

Systemrelevantes Fazit

Einheitslohn ist ein Konzept, das sich im Kleinen (also in einzelnen Unternehmen) jetzt sofort beginnen lässt und das im Großen schließlich seine ganze Sprengkraft beweisen könnte. Wenn alle bewusst Teil am Erfolg oder Misserfolg des Ganzen haben – das Ganze ist auf verschiedenen Ebenen gedacht das Unternehmen genauso wie die Gesellschaft mit all ihren Gemeinschaftseinrichtungen wie Gesundheitssystem und Bildung -, dann gibt es keine Rechtfertigung mehr für Standes- oder Gehaltsunterschiede. Wenn alle gleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung, Konsum und Bildung haben, auch nicht für Neid und Hass. Die Unternehmen würden denen gehorchen, die darin Verantwortung übernehmen, sprich arbeiten. Alle zusammen würden wir entscheiden, was wir für systemrelevant, heißt: entlohnenswert, halten, und was nicht. Diese Arbeiten würden wir uns untereinander gerecht aufteilen. Wer mehr arbeitet als durchschnittlich erforderlich, bekommt mehr Geld, wer nicht arbeiten kann, weniger, aber nie nix. Wahrscheinlich käme keine 40-Stunden-Woche dabei raus- stattdessen hätten die meisten bei gleicher Verteilung der erforderlichen Arbeit viel mehr Freizeit als bisher. Wir alle, die wir hier leben (egal ob mit oder ohne Papiere) könnten gemeinsam die Welt gestalten, wie sie uns gefällt. Und Pippi Langstrumpf unseren Präsidentinnenpalast widmen.

Ps: für Risiken und Nebenwirkungen in Bezug auf den Kapitalismus fragen Sie Ihre Ärztin, Ihren Apotheker oder irgendeine*n andere/n, der/dem Sie vertrauen!

Das ist meine Meinung. Ich habe mich Anfang dieses Jahrhunderts einmal für einen Job beworben, nur weil in der Stellenausschreibung Einheitslohn und kollektive Selbstverwaltung in Aussicht gestellt wurden. Heute bin ich anderswo angestellt und gehaltsmäßig vielleicht eher in der oberen Mitte, wäre aber jederzeit bereit, weniger Lohn zu akzeptieren, wenn ein Mittelwert berechnet würde und alle dasselbe bekämen. Wie seht ihr das? Was denkt ihr zum Thema Einheitslohn? Meint ihr auch, das wäre gesamtgesellschaftlich eine gute Idee?

Die richtigen Fragen stellen

Ein kurzweiliges und aufschlussreiches Buch über Verhaltensforschung an Tieren, von dem wir viel über Kommunikation und unseren Zugang zur Welt lernen können: Vinciane Desprets „Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen?“.

Despret betreibt quasi Verhaltensforschung an Verhaltensforscher*innen und kommt zu dem Schluss, dass Tierversuche seit Konrad Lorenz häufig faktisch Verblödungsstrategien sind, weil den Tieren von vorne herein die Möglichkeit abgesprochen (und im grausamsten Fall genommen) wird, aus einem eigenen Wollen heraus zu handeln. So jedoch, belegt sie an ungezählten Beispielen, können wir eigentlich nie etwas substantiell Neues erfahren, sondern erhalten immer nur Bestätigungen für das, was wir an Vorurteilen schon mitbrachten. Ist das schlau?

Um einen kleinen Eindruck vom zu erwartenden Lektürespaß zu vermitteln, hier ein paar Kostproben. Das Buch enthält über 20 verschiedene Texte, die unabhängig voneinander gelesen werden können und Fragen stellen wie: Schließen Tiere Kompromisse?Sollte Betrug ein Beweis für richtiges Verhalten sein? Ist das, was Vögel machen, Kunst? Oder: Haben Pinguine ein coming out?

Unter dem Titel Können Tiere aufbegehren? zum Beispiel lesen wir die Geschichte von den Scheiße werfenden Affen. Aufmerksamen Wissenschaftlern war nämlich nicht entgangen, dass sich die Schimpansen, wenn sie ihnen zum ersten Mal gegenübertraten, der unerfreulichen Angewohnheit hingaben, sie mit Kot zu bewerfen. Jedoch, so schreibt Despret, bereitete diese Gewohnheit dieser Wissenschaft tatsächlich „den Königsweg zum Wissen“ und führte nach 20 Jahren gewissenhafter Beobachtung und Dokumentation zu einer bahnbrechenden Erkenntnis: Schimpansen sind bei dieser Tätigkeit in der Mehrzahl Rechtshänder. Was vielleicht eine bessere Forschungsfrage gewesen wäre, stand ja bereits im Titel.

Ich mochte diese Geschichte genauso wie die weniger plakativen. Es gibt traurige darunter, wie die von dem verwaisten kleinen Äffchen, dass beinahe gestorben wäre, weil die Anwesenden Menschen nicht auf die Idee kamen, dass ihm körperliche Nähe fehlen könnte. Es gibt grausame Geschichten, die zeigen, wie weit manche Menschen zu gehen bereit sind, um ihre eigenen Vorurteile bestätigt zu sehen, wie die von den Ratten im Labyrinth. Und daneben stehen zahlreiche Geschichten, die einfach nur zum Staunen und immer wieder auch zum Freuen sind.

Am Ende bleibt vielleicht die Erkenntnis, wie sehr das, was wir sehen, davon beeinflusst ist, was wir unserem Gegenüber zutrauen. Je enger das gefasst ist, desto dümmer bleiben wir.

Despret, Vinciane (2019): Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? Münster: Unrast. https://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/was-wuerden-tiere-sagen-wuerden-wir-ihnen-die-richtigen-fragen-stellen-detail

Unter anderem dieses Buch hat übrigens eine philosophische Arbeit inspiriert, die ich unlängst geschrieben habe: Erkenntnis als Kollateralnutzen von Beziehungen. Ich werde sie euch demnächst hier vorstellen.

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