Zettelwirtschaft

Im Englischen gibt es die Warnung: „Don’t bite the hand that feeds you!“. Ich bin mit ihr aufgewachsen, auch wenn ich jetzt im deutschen Sprachraum lebe. Sie beschreibt ganz gut das Dilemma einer eingesperrten Primatin. Ich hatte jedenfalls immer den Blick einer traurigen Gorillafrau im Londoner Zoo vor Augen, wenn ich diesen Spruch hörte.

Aber ich will von mir reden. Ich bin ein Blatt Papier, und ich habe nur ein Leben. Solange ich denken kann, beschäftigt mich die Frage: Was soll auf diesem Blatt geschrieben stehen?

„Hilfe, ich bin ein Blatt und ich habe nur ein Leben!“? Nein, soviel ist klar.

„Heb mich auf, ich bin berühmt!“? Nur eine Variante der ersten Idee. Also nein.

„AaBb“ usw.? Okay, schreiben lernen ist wichtig. Schönschrift schon weniger. Aber sollte ich nicht für Größeres geschöpft worden sein?

„Ich liebe dich!“. Immerhin würde ich auf diese Art zumindest einen Menschen glücklich machen. Hoffentlich. Es sind auch andere Wirkungen denkbar.

„Hände hoch – dies ist ein Überfall! Schließen Sie einfach den Tresor auf und legen Sie alles Geld in diese Tasche. Wir geben Ihnen auch was ab – denn wir sind die Guten!“. Haben wir nicht alle einmal Robin Hood und Co. bewundert und wollten die Ungerechtigkeiten dieser Welt bekämpfen? Das führt zur Frage, ob es mir egal ist, wer mich am Ende beschreibt. Ist es natürlich nicht!

Nicht beschrieben werden will ich zum Beispiel von Leuten, die glauben, nur sie hätten Besseres verdient.

Die Vorstellung, eines Tages von einem solchen Menschen missbraucht zu werden, besudelt mit von rasender Hand in mich gedrückten Großbuchstaben, erzeugte meine frühesten Albträume. Sie kamen immer in schwarz-weiß: ich weiß, die Tinte schwarz.

Vor kurzem aber wurden meine Albträume bunt. In ihnen bin ich ein kleines Zettelchen mit einem Klebstreifen auf dem Rücken. Wir kleben zu dutzenden aufeinander und um uns herum stehen lauter Leute, die sich etwas ausdenken sollen.

„Hey, ihr habt 10 Minuten Zeit, eure besten Ideen aufs Papier zu bringen!“, tönt es gutgelaunt aus Moderatorenmund. Ich rieche Achselschweiß, nicht jede*r hat es bis hierhin geschafft, alle wollen es gut machen. Auch ich bin vor Aufregung ganz grün!

Ein Zettelchen nach dem anderen wird abgerissen und mit Gedankenrohkost bekritzelt, möglichst schnell, möglichst viel, sortiert, ausgewählt und „verfeinert“ wird später. Nachgedacht wenn’s dumm läuft gar nicht. Die Frage, die die Leute beantworten sollen, lautet: „Wie können wir in 4 Wochen unsere Umsätze verdoppeln?“

Die meisten Wörter, die auf uns landen, kenne ich aus den Medien, vor allem den „sozialen“, und aus meiner Muttersprache.

Da greift eine etwas faltige Hand nach mir und schreibt zögerlich und zittrig: „vermutlich nur durch Zahlentricks….“. Au weia. Ich schäme mich mit ihr und werde ganz pink, denn wir wissen beide, das wir dafür im besten Fall ignoriert werden. Mein letztes Stündlein hat geschlagen, ich werde von ihr selbst zerknüllt und in den bereitstehenden Papierkorb geschmissen. Es heißt, von hier aus geht es direkt in den Reißwolf oder ins Krematorium.

In einer anderen Variante des Albtraums lebe ich etwas länger, weil jemand „Die Menschen draußen fragen, was sie von uns wollen?“ auf mich draufgeschrieben hat. Einen Moment später finde ich mich an einer Wand wieder. Schon kommt der Besitzer der Moderatorenstimme und „gruppiert mich um“. Ich hänge jetzt neben einer Leidensgenossin, auf der steht: „Barrierefreie Angebote umsetzen“. Wir verdrehen beide die Augen und rollen uns ein wenig zusammen, weil wir wissen, was jetzt kommt. Es gibt ein „Voting“, die Menschen kleben Punkte auf diejenigen von uns, die sie für lebenswert halten. Meine Nachbarin und ich bekommen keinen einzigen. Damit sind auch wir gestorben.

Eine Gruppe von Überlebenden winkt zum Abschied. Auf ihnen steht: „Show happy people, don’t talk about problems!“, „Weniger Text, mehr Emotion!“. Auf einem ist ein euphorisches Smiley, sonst nichts.

Auf dem Flug in den Papierkorb wachsen mir Flügel. Ich werde zu einem wunderschönen Papierflieger und bin stolz auf meine Aufschrift „bite the hand that feeds“.

Nach diesem Traum wachte ich auf und spürte, jetzt war es soweit. Ich hörte das Klicken eines Kugelschreibers, fühlte das Gewicht einer Hand auf mir und die zögernde Suche nach dem richtigen Anfangspunkt auf meiner Haut. Ganz oben am Rand? Oder weiter in der Mitte? Oben! Da hatte jemand vor, mehr als eine kurze Notiz zu hinterlassen, stellte ich euphorisch fest und gab mich hin. Ich machte mich ganz groß und weit, bereit, mit einem ganzen Roman beschrieben zu werden! Ich wollte es – so sehr! Das erste Wort stand. Ein zweites kam hinzu. Dann noch eins und noch eins, immer mehr Buchstaben, mit einer fast schmerzenden Entschlossenheit drückten sie sich in mich hinein, eng aneinandergereiht und nahmen mir den Atem. Gut so! Fast wollte ich schreien, als der Kuli ins Stocken geriet und kurz darauf mit wilden Bewegungen ein ganzes Wort unter einem Hagel von Strichen verschwinden ließ. Und dennoch waren auch seine Buchstaben tief in mich eingegraben, freute ich mich klammheimlich. Ich würde sie bewahren solange ich lebte. Sie waren es, die ich mir als erste genauer ansah. Ich kannte das Wort. Es ist aus der Zeit gefallen, aber dennoch aktuell. Ich wusste auch, warum es nicht stehenbleiben konnte.

Und da wurde mir klar, ich würde nicht umsonst gelebt haben. Der Druck des Kulis wurde nun weicher, tastender, noch mehr Worte, am Ende mehr durchgestrichene als nackte, und so wurde ich voll, sogar von beiden Seiten. Ich landete nicht im Papierkorb, sondern auf einem Stapel mit anderen Papieren, die ganz ähnlich aussehen. Manche von ihnen liegen bereits seit mehreren Wochen hier.

Nun ist es also entschieden. Ein zweites Leben gibt es nicht für mich. Aber dieses ist noch nicht vorbei.

PPS: Musik zum Text (Skeleton Crew)

Altersdiskriminierung: Was ist die Antwort auf Ageism?

Ist euch in einer Diskussion schon mal ein Statement begegnet, das mit den Worten anfing „Ich möchte dir/Ihnen ja nicht zu nahetreten, aber WIR gehören noch/schon einer Generation an, die….“? Fühlt sich nicht gut an, oder? Egal, was danach kommt….

Der Grund ist, dass mit dieser Einleitung gleich einmal folgendes klargestellt wird: 1) Der/die Sprecher*in teilt Menschen nach ihrer Zugehörigkeit zu von ihm/ihr definierten Altersgruppen ein. 2) der/die Sprecher*in macht deutlich, dass Du nicht zu derselben gesellschaftlichen Gruppe gehörst wie sie/er, 3) der/die Sprecher*in gründet seine/ihre weitere Argumentation auf Stereotype bezüglich deiner Gruppe, 4) der/die Sprecher*in hält ihre/seine Position für überlegen.

Kurzum: die entstehende Situation ist für den/die Angesprochene einfach ätzend. Und wahrscheinlich wird das, was an Text dann noch folgt, vor Ärger oder Frust überhaupt nicht mehr richtig wahrgenommen.

Wie nun reagieren?

Mir fällt letztlich nur eine Möglichkeit ein, die für mich stimmig wäre: nämlich genau das ansprechen. Aber auch das fühlt sich scheiße an. Es bringt mich nämlich in die Situation, meine Verletzlichkeit zeigen zu müssen und mich damit vielleicht sogar noch verletzlicher zu machen. Ich habe Angst, damit die Vorurteile des/der Sprecher*in noch zu verstärken. Sie/er oder Dritte, die dabei sind, könnten mir vorwerfen, vom eigentlichen Thema des Gesprächs abzulenken. Ich will gar nicht als Person im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung mit so aggressiven Menschen stehen.

An dieser Stelle kann ich auch einmal Danke sagen. Denn Altersdiskriminierung ist eine Erfahrung, die sogar die machen können, die ansonsten eher auf der dominanten Seite stehen, wenn Menschen in Gruppen eingeteilt werden (z.b. nach Hautfarbe, Herkunft, Sexualität, etc). Und wenn eine*r erstmal weiß, wie scheiße es sich auf der anderen, der mindergeschätzten und stereotypisierten Seite anfühlt, dann sollte sie/er doch viel viel vorsichtiger werden in den eigenen Äußerungen und selber Diskriminierungen aller Art vermeiden. Wär jedenfalls schön.

So richtig weiß ich allerdings trotzdem noch nicht, wie ich beim nächsten Mal reagieren werde, wenn ich in eine solche Situation komme. Vielleicht habt ihr ja Tipps?

Update: Mal wieder in eine Bar!!!

Falls ihr meinen letzten Beitrag „Mal wieder in eine Bar gehen!“ nicht gefunden habt (ich hab ihn aus Versehen zunächst unter einem falschen Datum veröffentlicht), der richtige Link ist: https://prinzessinkarl.wordpress.com/2020/11/22/digital-bar/

Verstehen als Beziehungsarbeit

Unser Umgang mit einer neuen Krankheit, die sich pandemisch verbreitet, ist nicht anders als unser Umgang mit anderen ökologischen und ökonomischen Krisensituationen der letzten Jahrzehnte. Der bislang allerdings noch nirgends zu einer fundamentalen Wende geführt hat. Was fehlt?

Ich hatte ja von einiger Zeit schon versprochen, mal meine Arbeit „Erkenntnis als Kollateralschaden von Beziehungen“ hier hochzuladen. Gehindert hat mich daran bisher vor allem, dass ich nicht wusste, wie ich eine Verbindung herstellen könnte zu den Themen, die mich aktuell beschäftigen – und die eben auch mit Corona zusammenhängen.

So langsam allerdings dämmert mir etwas: Es sind im Kern dieselben Haltungen, die den Diskurs prägen, die mich immer wieder auf dieselbe Art verstören und die ich zunehmend für komplett untauglich halte. Sogar für desaströs. Ich meine einerseits die Vorstellung von objekthaften Wahrheiten (für die also keine Verantwortung zu übernehmen ist), und andererseits die Vorstellung von individueller Freiheit.

In „Erkenntnis als Kollateralschaden von Beziehungen“, einem Text der in Theoretischer Philosophie an der TU Darmstadt entstanden ist, geht es vorrangig um den ersten Bereich. Genauer gesagt um aktuelle Arbeiten feministischer Philosophinnen zur Frage nach der Beziehung zwischen uns und der Welt, und inwiefern die Art dieser Beziehung bereits vorgibt, was wir überhaupt für Erkenntnisse gewinnen können. Ihr werdet dort auch Vinciane Despret wiederfinden. Beispiele kommen aus der Genetik, der Verhaltensforschung und der Anthropologie.

Hier könnt ihr den Text lesen und runterladen: „Erkenntnis als Kollateralnutzen des Zusammenlebens“.

Auf vielleicht noch fatalere Art wird der öffentliche Diskurs immer wieder von einer Vorstellung individueller Freiheit geprägt, die es aus feministischer, ökologischer und sozialer Sicht hart zu kritisieren gilt. Hierzu entdecke ich gerade Wendy Brown, Politikwissenschaftlerin aus den USA (und außerdem Lebensgefährtin von Judith Butler, die hierzulande wohl bekannter ist). Eine ihrer Kernthesen ist, dass „individuelle Freiheit“ ein genuin neoliberales Konzept ist, das zudem unauflösbar mit Maskulinismus, Dominanz und Unterwerfung verbunden ist. Mehr dazu demnächst in diesem Blog!

Die richtigen Fragen stellen

Ein kurzweiliges und aufschlussreiches Buch über Verhaltensforschung an Tieren, von dem wir viel über Kommunikation und unseren Zugang zur Welt lernen können: Vinciane Desprets „Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen?“.

Despret betreibt quasi Verhaltensforschung an Verhaltensforscher*innen und kommt zu dem Schluss, dass Tierversuche seit Konrad Lorenz häufig faktisch Verblödungsstrategien sind, weil den Tieren von vorne herein die Möglichkeit abgesprochen (und im grausamsten Fall genommen) wird, aus einem eigenen Wollen heraus zu handeln. So jedoch, belegt sie an ungezählten Beispielen, können wir eigentlich nie etwas substantiell Neues erfahren, sondern erhalten immer nur Bestätigungen für das, was wir an Vorurteilen schon mitbrachten. Ist das schlau?

Um einen kleinen Eindruck vom zu erwartenden Lektürespaß zu vermitteln, hier ein paar Kostproben. Das Buch enthält über 20 verschiedene Texte, die unabhängig voneinander gelesen werden können und Fragen stellen wie: Schließen Tiere Kompromisse?Sollte Betrug ein Beweis für richtiges Verhalten sein? Ist das, was Vögel machen, Kunst? Oder: Haben Pinguine ein coming out?

Unter dem Titel Können Tiere aufbegehren? zum Beispiel lesen wir die Geschichte von den Scheiße werfenden Affen. Aufmerksamen Wissenschaftlern war nämlich nicht entgangen, dass sich die Schimpansen, wenn sie ihnen zum ersten Mal gegenübertraten, der unerfreulichen Angewohnheit hingaben, sie mit Kot zu bewerfen. Jedoch, so schreibt Despret, bereitete diese Gewohnheit dieser Wissenschaft tatsächlich „den Königsweg zum Wissen“ und führte nach 20 Jahren gewissenhafter Beobachtung und Dokumentation zu einer bahnbrechenden Erkenntnis: Schimpansen sind bei dieser Tätigkeit in der Mehrzahl Rechtshänder. Was vielleicht eine bessere Forschungsfrage gewesen wäre, stand ja bereits im Titel.

Ich mochte diese Geschichte genauso wie die weniger plakativen. Es gibt traurige darunter, wie die von dem verwaisten kleinen Äffchen, dass beinahe gestorben wäre, weil die Anwesenden Menschen nicht auf die Idee kamen, dass ihm körperliche Nähe fehlen könnte. Es gibt grausame Geschichten, die zeigen, wie weit manche Menschen zu gehen bereit sind, um ihre eigenen Vorurteile bestätigt zu sehen, wie die von den Ratten im Labyrinth. Und daneben stehen zahlreiche Geschichten, die einfach nur zum Staunen und immer wieder auch zum Freuen sind.

Am Ende bleibt vielleicht die Erkenntnis, wie sehr das, was wir sehen, davon beeinflusst ist, was wir unserem Gegenüber zutrauen. Je enger das gefasst ist, desto dümmer bleiben wir.

Despret, Vinciane (2019): Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? Münster: Unrast. https://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/was-wuerden-tiere-sagen-wuerden-wir-ihnen-die-richtigen-fragen-stellen-detail

Unter anderem dieses Buch hat übrigens eine philosophische Arbeit inspiriert, die ich unlängst geschrieben habe: Erkenntnis als Kollateralnutzen von Beziehungen. Ich werde sie euch demnächst hier vorstellen.

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