Ein Sack Reis in China

Metronormativität heißt: alles allein aus der Perspektive von Stadtbewohner:innen zu betrachten. Dabei brauchen wir das Land. Von dort kommt unser Essen. Dort erholen wir uns. Dort liegen die Rohstoffe für unser ganzes Leben. Vielleicht weil diese Abhängigkeit im Alltag der städtischen Konsument:innen kaum erfahrbar ist, wird sie im politischen Denken oft ausgeblendet. Das ist schräg – und fatal.

Xiaowei Wang, US-Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln – hat mir nicht nur diesen Begriff beigebracht. In ihrem kürzlich erschienenen Buch geht es um die Frage, wie es im zeitgenössischen China um das Verhältnis zwischen Stadt und Land bestellt ist. Das ist nicht nur deshalb interessant, weil China Digitalisierung und Anschluss an kapitalistisch organisierte Weltmärkte im Schnelldurchlauf vormacht. China ist gleichzeitig Agrarmacht und muss es bleiben, da der Staat einen Großteil der Weltbevölkerung, nämlich mehr als 2 Milliarden Menschen, zu ernähren hat. Wie geht das? Was bedeutet es für die einzelnen Menschen, vor allem auch auf dem Land?

Die Erfahrungen, die Xiaowei Wang auf ihren Reisen nach China gesammelt hat, hat sie in einem Buch mit dem Titel „Blockchain Chicken Farm“ veröffentlicht. Wer es liest, kann einen Blick hinter die Kulissen dessen erhaschen, was im Westen oft nur in Bildern von Megacities ohne Luft zum Atmen oder in Gestalt von chinesischen Billigangeboten bei Amazon auftaucht.

Eine Stärke des leider bislang nur auf Englisch vorliegenden Buchs liegt in seiner ganz haptischen, wenig dozierenden Darstellung. Anhand von Portraits einzelner Menschen werden unterschiedliche Facetten des Themas sichtbar. Da ist zum Beispiel der Bauer, der seit jeher freilaufende Hühner züchtet, aber vor dem Problem steht, dass die gutsituierten Konsument:innen in der entfernten Stadt immer misstrauischer werden, was die Qualität der Lebensmittel angeht. Seine Lösung: die Zusammenarbeit mit einem Hightech- Unternehmen, das einen Herkunftsnachweis per Blockchain-Verfahren umsetzt (dieser Geschichte verdankt das Buch seinen Titel). Später begegnen wir einem Polizisten, der vom automatisierten Profiling erzählt, in dessen Fokus vor allem die Landflüchtigen geraten, die es schwer haben, in den Städten mit überteuerten Wohnungen und für sie erschwertem Bildungszugang Fuß zu fassen. Der aus dem Profiling häufig folgenden Kriminalisierung ist ein junger Mann entkommen, der als Drohnenpilot zurück aufs Land ging und dort mit der Ausbringung von Pestiziden ein gutes Auskommen zunächst ein sehr gutes Auskommen fand. Wie prekär jedoch auch dieses Konzept ist wird deutlich, wenn wir ihn auf eine Tagung begleiten, auf der der technologische Fortschritt gezeigt wird, durch den auch diese Arbeit bald überflüssig werden wird.

Es ist ein weiteres Verdienst des Buchs, globale und politische Bezüge sichtbar zu machen. So schildert Xiaowei Wang zum Beispiel die Veränderungen in einem extrem abgelegenen Dorf, in dem es durch den Internetanschluss plötzlich möglich schien, Halloween-Kostüme für den Verkauf in den USA zu schneidern und damit eine ganz neue Einkommensquelle zu erschließen. Doch dann fehlten Straßen, so dass die Lieferzeiten unerträglich lang und die Kund:innen verärgert waren. Erst nach staatlichen Investitionen in die materielle Infrastruktur konnte der Plan wirklich erfolgreich werden.

Blockchain Chicken Farm ist jedoch kein Loblied auf den Kapitalismus, auch nicht auf dessen chinesische Variante. Der Preis der kapitalistischen „Freiheiten“ ist auch in China besonders hoch für die große Masse derjenigen, denen der Zugang zu Kapital, Bildung, Infrastruktur und Unterstützung der Partei bzw. des Staates fehlt. Die Schattenseite zeigt sich darin, das der Staat das Elend nur noch verwaltet, und in eben all den verzweifelten, oft scheiternden individuellen Versuchen, wenigstens einen kleinen Anteil an dem in den Städten zur Schau getragenen „Wohlstand“ auf eigene Weise zu erlangen.

Bislang völlig außerhalb meines Fokus werden in diesem Zusammenhang sogenannte Multilevelmarketing– (a.k.a. Schneeball- oder Direktvertriebs-) Systeme thematisiert – dabei gibt es sie auch hier (Tupperware, Thermomix, Haka, etc.). Gemeint ist ein global existierendes Geschäftsmodell, das den Vertrieb über selbständige Subunternehmer regelt, die mit dem Kauf der Produkte (Waschmittel, Nahrungsergänzungsmittel, Perlen… egal) in Vorleistung treten und sich dabei oft hoch verschulden. Diese Subunternehmer können sich nur Entlastung verschaffen, indem sie ihrerseits wieder Subunternehmer rekrutieren, von deren Verkäufen sie dann Provision erhalten, usw. In China wie in den USA sind dies laut Xiaowei Wang oftmals Menschen, die auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Chance haben, häufig eben auch, weil sie in abgelegenen ländlichen Gebieten leben.

An dieser Stelle habe ich nebenbei etwas Interessantes über die USA erfahren. Denn Xiaowei Wang schildert, wie in derartigen Unternehmen sektenähnliche soziale Gemeinschaften mit eigenen, zum Teil auf „alternativen Fakten“ beruhenden Weltbildern entstehen und dass Donald Trump mit solchen Geschäften groß geworden ist. Hier wird ein möglicher Zusammenhang mit Trumps Wahlerfolgen in den Raum gestellt, weil diese staatenweise wohl mit der Verbreitung solcher Strukturen (Trump Network, ACN,…) korrelieren. Interessante Spur in Sachen rechtspopulistischer Mobilisierung. Davon hatte ich vorher noch nie etwas gehört.

Blockchain Chicken Farm bietet neue Perspektiven und damit viel Stoff, um in ganz verschiedene Richtungen weiterzudenken und zu recherchieren. Ich bin gespannt auf eure Gedanken dazu!

Es ist genug für alle da!

Ein bißchen Nachlesen über den damals sogenannten „Brotkorb der Welt“ (angeregt durch die Lektüre von „Am Roten Fluss“ ) hat mich dazu bewegt, mich mal wieder mit der Frage zu befassen, woher eigentlich global gesehen in den nächsten Jahrzehnten unser Essen kommen könnte. Dabei bin ich auf ein paar interessante Fakten gestoßen.

Seit 1948 ist die Menge in der US-Landwirtschaft eingesetzter Produktionsfaktoren (Arbeit, Land, Kapital) praktisch unverändert geblieben, während der Ausstoss der Farmen sich fast verdreifacht hat….

(Quelle: NZZ)

Wissenschaft und Technik tragen maßgeblich dazu bei, die Produktivität kontinuierlich zu steigern – und dazu braucht es nicht nur Chemie.

Im Laufe der Zeit haben sich entsprechend die Beiträge an die Produktivität gewandelt. Waren ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Mechanisierung und Chemikalien entscheidend, ist von 1980 bis 2009 der Maschinenpark geschrumpft, der Einsatz von Land und Arbeitskräften zurückgegangen, und der Einsatz von Chemikalien hat sich verlangsamt. Trotzdem nahm die Produktion in dieser Zeit um jährlich 1,5% zu….

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat zudem eine richtiggehende Revolution stattgefunden, was das wissenschaftliche Verständnis lebender Organismen und die Datenverarbeitung betrifft. Saatgut wird zunehmend wetter- und krankheitsresistent, Traktoren werden von Satelliten gesteuert und düngen und säen auf den Zentimeter genau, Bodensonden melden, wann wo wie viel bewässert werden muss…

(Quelle: NZZ)

Und wenn AgrarwissenschaftlerInnen heute auch besser denn je wissen, was im Sinne von Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung bei alledem zu beachten wäre  (zb laut dieser Studie): Was könnte die Menschheit dann noch daran hindern, genug zu essen für alle zu produzieren?

Die Welternährungsorganisation FAO hat 2015 einen Plan (Path to Zero Hunger by 2030) aufgestellt, der das Ziel hat, bis 2030 den Hunger in der Welt abzuschaffen. Bis dahin wird es voraussichtlich über 8 Milliarden Menschen geben. Immer mehr Menschen, und trotzdem könnte genug für alle da sein.

Zu den wichtigsten Maßnahmen, die zur Abschaffung des Hungers auf der Welt führen, gehören allerdings zwei Dinge: auf der einen Seite eine Steigerung der Produktivität (check), auf der anderen Seite eine Verbesserung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für alle – und hier liegt das Problem.

Das Perverse ist, dass über die Jahrzehnte trotz wachsender Produktivität für die Masse der Menschen kein besseres Leben herausgesprungen ist. Dass das Wissen und das Können der Menschheit nicht so eingesetzt werden, dass der Hunger ausgerottet wird (und nicht die Tiere).

Hier in den Metropolen wird uns weisgemacht, dass Reallöhne und Renten sinken, weil wir mehr werden (mehr Kranke, mehr Alte, mehr Arbeitslose). In der Peripherie leiden weiterhin Millionen an Hunger und Armut. Und das, obwohl wir mit immer weniger Aufwand und Ressourcen immer mehr produzieren. Die Früchte dieser Entwicklung kommen aber bislang nur einigen Wenigen zu Gute, ganz nach dem Motto: Nur wer hat, der kriegt.

Ein paar Schritte dahin, dies zu ändern, stehen auch im Plan der FAO, wer beobachten möchte, was sich in diesem Zusammenhang tut, kann neue Entwicklungen auf http://www.agrardebatte.de verfolgen.

Und immer, wenn jemand mit dem Argument, irgendetwas würde nicht reichen, andere ausgrenzen will, sollten wir uns diese Fakten mal wieder vor Augen halten.