Ein Sack Reis in China

Metronormativität heißt: alles allein aus der Perspektive von Stadtbewohner:innen zu betrachten. Dabei brauchen wir das Land. Von dort kommt unser Essen. Dort erholen wir uns. Dort liegen die Rohstoffe für unser ganzes Leben. Vielleicht weil diese Abhängigkeit im Alltag der städtischen Konsument:innen kaum erfahrbar ist, wird sie im politischen Denken oft ausgeblendet. Das ist schräg – und fatal.

Xiaowei Wang, US-Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln – hat mir nicht nur diesen Begriff beigebracht. In ihrem kürzlich erschienenen Buch geht es um die Frage, wie es im zeitgenössischen China um das Verhältnis zwischen Stadt und Land bestellt ist. Das ist nicht nur deshalb interessant, weil China Digitalisierung und Anschluss an kapitalistisch organisierte Weltmärkte im Schnelldurchlauf vormacht. China ist gleichzeitig Agrarmacht und muss es bleiben, da der Staat einen Großteil der Weltbevölkerung, nämlich mehr als 2 Milliarden Menschen, zu ernähren hat. Wie geht das? Was bedeutet es für die einzelnen Menschen, vor allem auch auf dem Land?

Die Erfahrungen, die Xiaowei Wang auf ihren Reisen nach China gesammelt hat, hat sie in einem Buch mit dem Titel „Blockchain Chicken Farm“ veröffentlicht. Wer es liest, kann einen Blick hinter die Kulissen dessen erhaschen, was im Westen oft nur in Bildern von Megacities ohne Luft zum Atmen oder in Gestalt von chinesischen Billigangeboten bei Amazon auftaucht.

Eine Stärke des leider bislang nur auf Englisch vorliegenden Buchs liegt in seiner ganz haptischen, wenig dozierenden Darstellung. Anhand von Portraits einzelner Menschen werden unterschiedliche Facetten des Themas sichtbar. Da ist zum Beispiel der Bauer, der seit jeher freilaufende Hühner züchtet, aber vor dem Problem steht, dass die gutsituierten Konsument:innen in der entfernten Stadt immer misstrauischer werden, was die Qualität der Lebensmittel angeht. Seine Lösung: die Zusammenarbeit mit einem Hightech- Unternehmen, das einen Herkunftsnachweis per Blockchain-Verfahren umsetzt (dieser Geschichte verdankt das Buch seinen Titel). Später begegnen wir einem Polizisten, der vom automatisierten Profiling erzählt, in dessen Fokus vor allem die Landflüchtigen geraten, die es schwer haben, in den Städten mit überteuerten Wohnungen und für sie erschwertem Bildungszugang Fuß zu fassen. Der aus dem Profiling häufig folgenden Kriminalisierung ist ein junger Mann entkommen, der als Drohnenpilot zurück aufs Land ging und dort mit der Ausbringung von Pestiziden ein gutes Auskommen zunächst ein sehr gutes Auskommen fand. Wie prekär jedoch auch dieses Konzept ist wird deutlich, wenn wir ihn auf eine Tagung begleiten, auf der der technologische Fortschritt gezeigt wird, durch den auch diese Arbeit bald überflüssig werden wird.

Es ist ein weiteres Verdienst des Buchs, globale und politische Bezüge sichtbar zu machen. So schildert Xiaowei Wang zum Beispiel die Veränderungen in einem extrem abgelegenen Dorf, in dem es durch den Internetanschluss plötzlich möglich schien, Halloween-Kostüme für den Verkauf in den USA zu schneidern und damit eine ganz neue Einkommensquelle zu erschließen. Doch dann fehlten Straßen, so dass die Lieferzeiten unerträglich lang und die Kund:innen verärgert waren. Erst nach staatlichen Investitionen in die materielle Infrastruktur konnte der Plan wirklich erfolgreich werden.

Blockchain Chicken Farm ist jedoch kein Loblied auf den Kapitalismus, auch nicht auf dessen chinesische Variante. Der Preis der kapitalistischen „Freiheiten“ ist auch in China besonders hoch für die große Masse derjenigen, denen der Zugang zu Kapital, Bildung, Infrastruktur und Unterstützung der Partei bzw. des Staates fehlt. Die Schattenseite zeigt sich darin, das der Staat das Elend nur noch verwaltet, und in eben all den verzweifelten, oft scheiternden individuellen Versuchen, wenigstens einen kleinen Anteil an dem in den Städten zur Schau getragenen „Wohlstand“ auf eigene Weise zu erlangen.

Bislang völlig außerhalb meines Fokus werden in diesem Zusammenhang sogenannte Multilevelmarketing– (a.k.a. Schneeball- oder Direktvertriebs-) Systeme thematisiert – dabei gibt es sie auch hier (Tupperware, Thermomix, Haka, etc.). Gemeint ist ein global existierendes Geschäftsmodell, das den Vertrieb über selbständige Subunternehmer regelt, die mit dem Kauf der Produkte (Waschmittel, Nahrungsergänzungsmittel, Perlen… egal) in Vorleistung treten und sich dabei oft hoch verschulden. Diese Subunternehmer können sich nur Entlastung verschaffen, indem sie ihrerseits wieder Subunternehmer rekrutieren, von deren Verkäufen sie dann Provision erhalten, usw. In China wie in den USA sind dies laut Xiaowei Wang oftmals Menschen, die auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Chance haben, häufig eben auch, weil sie in abgelegenen ländlichen Gebieten leben.

An dieser Stelle habe ich nebenbei etwas Interessantes über die USA erfahren. Denn Xiaowei Wang schildert, wie in derartigen Unternehmen sektenähnliche soziale Gemeinschaften mit eigenen, zum Teil auf „alternativen Fakten“ beruhenden Weltbildern entstehen und dass Donald Trump mit solchen Geschäften groß geworden ist. Hier wird ein möglicher Zusammenhang mit Trumps Wahlerfolgen in den Raum gestellt, weil diese staatenweise wohl mit der Verbreitung solcher Strukturen (Trump Network, ACN,…) korrelieren. Interessante Spur in Sachen rechtspopulistischer Mobilisierung. Davon hatte ich vorher noch nie etwas gehört.

Blockchain Chicken Farm bietet neue Perspektiven und damit viel Stoff, um in ganz verschiedene Richtungen weiterzudenken und zu recherchieren. Ich bin gespannt auf eure Gedanken dazu!

Fran Kiss Stein – Mary Shelley und die Monster der KI

Jeanette Winterson kann schreiben und interessiert sich für vieles, was auch mich interessiert: KI und ihre Monster, Literatur, gewitzte Frauen und ihre Lebensbedingungen und Geschichten. In ihrem aktuellen Roman Fran Kiss Stein geht es daneben auch um Transgender. Es geht um die Vision des Transhumanismus. Letztlich immer wieder um das Verhältnis von Körper und Geist/Bewusstsein.

Winterson erkundet auf ganz verschiedenen Ebenen die Fragen, die sich aus diesem Verhältnis ergeben. Freude und Leid der an einen bestimmten und vergänglichen Körper gebundenen Seele. Macht und Ohnmacht des Geistes über den Körper. Den Drang, die Beschränkungen des Körpers zu überwinden.

Es geht am Ende auch kurz um Unterschiede zwischen maschineller und menschlicher Intelligenz. Wobei mir das leider am wenigsten gründlich untersucht zu sein scheint und dazu noch in eine gleichermaßen elitäre wie anthropozentristische Sichtweise weist.

„Nur der menschliche Geist ist zu dem Gedankensprung fähig, der Genialität ausmacht.“, lässt Winterson da Ada Lovelace sagen, die erste Software-Entwicklerin der Geschichte. „Aber seien wir ehrlich, welcher menschliche Geist ist schon genial? Die meisten nicht, und sie brauchen auch keine Genialität. Was sie brauchen, sind Instruktion und Information. Und das würde die Maschine ermöglichen.“

Diese Aussage (immerhin den Anfängen der Entwicklung von Computern zu Beginn des 19. Jh. zugeordnet) steht zwar Bildern von Robotern gegenüber, die komplexe medizinische Analysen durchführen, die ohne ihren Einsatz gar nicht möglich wären, aber sie bleibt dennoch irgendwie unwidersprochen im Raum stehen.

Was mir bei all den Erkundungen rund um Körper und Geist außerdem noch viel zu kurz kam, war die Gegenfrage: inwiefern bestimmen Körper und erlebter Leib die Inhalte des Geistes/Bewusstseins? Und was bedeutet das im Hinblick auf künstliche „Intelligenzen“?

Trotzdem habe ich das Buch über die weitesten Strecken sehr gerne gelesen. Es hat mich inspiriert und von Corona abgelenkt. Und das ist doch schon sehr sehr viel.

An dieser Stelle wollte ich eigentlich Schluss machen. Das wäre ein sehr abruptes Ende dieses Beitrags, meinte meine Liebste, schreib doch etwas mehr darüber, was dir denn dann gefallen hat. Also gut 😉

Die Personen der Handlung sind toll gewählt! Neben Mary Shelley und Lord Byron, Ada Lovelace und Viktor Frankenstein kommen unter anderem ein geistig nicht immer sehr heller, aber erfolgreicher Verkäufer von Sexbots, eine devote evangelikale Gottesanbeterin, und ein Ich-Erzähler vor, der im Körper einer Frau geboren wurde, diesen an sein eigenes Empfinden anpassen ließ und nun in einem das binäre Denken seiner Mitmenschen irritierenden Körper lebt. Sie alle treffen in unterschiedlichen, teils abstrusen Konstellationen immer wieder aufeinander, was Vielseitigkeit und eine gewisse Komik garantiert!

Jeanette Winterson: Fran Kiss Stein. Übersetzt von Michaela Grabinger und Brigitte Walitzek. Erschienen bei Kein & Aber, 2019. Erhältlich in eurem örtlichen Buchladen – der gerade jetzt Unterstützung braucht!

Smart Houses, Smart Cars und eine etwas unsmarte Geschichte

Immer neugierig, was es abseits des Mainstreams zu lesen gibt, habe ich meinem Lesekreis das Buch Adrian oder die unzählbaren Dinge vorgeschlagen. Die Lektüre war für uns alle dann aber leider eher mühsam als begeisternd. Schade, denn die Idee, die die österreichische Autorin Angelika Stallhofer da hatte, war vielversprechend.

Das Setting, ein Smart Home, das uns dazu gebracht hatte, dem Roman ein zeitgemäßes Thema zu unterstellen, blieb jedoch nur Staffage und Klischee (Symbol für Reglementierung, vorgegaukelte Sicherheit, Aussparung alles Lebendigen – und der Gegenpol natürlich: die Künstlerin, die mit IT und Technik nichts am Hut hat – gähn…).

Dabei steckt in der ganzen Debatte über “smarte“ Technologien viel mehr Potenzial, viel mehr Fragen, über die wir uns dringend unterhalten sollten. Denn das Risiko liegt vor allem da, wo uns von Maschinen Entscheidungen abgenommen werden. Mit diesem Thema setzt sich zum Beispiel Cathy O’Neil auseinander, die ich bereits in meinem Alexa Beitrag erwähnt habe.

Eine andere Möglichkeit, sich mit der Komplexität dieser Fragestellung zu befassen, bietet die Moralmaschine des MIT. Auf einer Webseite wird dort anhand einer Hand voll von Szenarien immer wieder die Frage gestellt: wie würden Sie entscheiden? Zb. Wie sollte ein selbst fahrendes Auto entscheiden, wenn es vor der Wahl steht, entweder zwei Omas oder eine Mutter mit Kind zu überfahren . Interessant ist dabei vor allem, dass deutlich wird, wie weit Maschinen künftig in unser Leben eingreifen werden. In smarten Häusern, smarten Autos, smarten Städten.

Von all dem war im Roman leider nicht die Rede. Toll fanden wir vor allem die liebevolle Gestaltung des gebundenen Buchs: auf dem Einband Botticellis Venus, die ersten Seiten und die Überschriften kunstvoll verziert. Was jedoch zum Inhalt, dem verzweifelten Stammeln eines minder begabten Werbetexters inmitten einer Schaffens- und Lebenskrise kaum passt. Ansonsten ist zur Sprache des Romans noch zu sagen, dass mit sehr vielen Bildern und stellenweise komplexen Bezügen gearbeitet wird, wobei die Bezüge manchmal verwirren und die Bilder den Text mitunter überfrachten. Stattdessen hätten wir uns in der Geschichte lieber etwas mehr Dynamik gewünscht. Room for improvement, aber einen Versuch war’s wert!

Jäger und Verjagte

Die Fabrik, das wissen alle, hat ihre besten Zeit weit hinter sich und wird bald schließen. Doch nicht das ist die größte Sorge des Chefs und der wenigen verbliebenen Mitarbeiter*innen, sondern ein Wolf, der angeblich auf dem Fabrikgelände gesehen wurde.

Nach und nach stellt die dreißigjährige Schweizer Autorin Gianna Molinari in ihrem Roman „Hier ist noch alles möglich“ das auf unterschiedliche Weisen zu Jägern werdende Fabrikpersonal vor. Da sind neben dem selbstverliebten Chef zunächst die Befehlsempfänger, die Protagonistin und ihr Kollege, die sich beim gemeinsamen Fallenbauen näher kommen. Da ist einer, der – „einer muss es ja tun“ – am liebsten sofort zum Gewehr greifen würde. Und der sich gleichzeitig, wenn es um seine persönliche Zukunft geht, ins Weltall träumt, anstatt aktiv zu werden und/oder von Bord des sinkenden Schiffs zu springen. Das wiederum tun andere – und werden damit selbst auf eine Art zu Vertriebenen, auch wenn auf sie nicht gleich Jagd gemacht wird.

Doch wer ist eigentlich der Gejagte? Nur, wer ihm nichts tut, kann in diesem Roman vielleicht einmal aus der Ferne einen Blick auf ihn erhaschen. Und doch nichts über ihn wissen.

Die skurrile Geschichte der Jagd auf einen Wolf in den Ruinen der Industrialisierung ist für sich schon ganz wunderbar. Toll erzählt, einprägsam in Atmosphäre, Bildern und Charakteren.

Gianna Molinari legt aber noch eine zweite Ebene darüber. Die Erzählerin begegnet innerhalb der Romanhandlung nämlich der leider nicht fiktiven Geschichte vom „Mann, der vom Himmel fiel“. 2010 wurde in der Schweiz ein dunkelhäutiger Mann tot aufgefunden, dessen Herkunft sich zunächst niemand erklären konnte. Schließlich wurde vermutet, dass er beim Landeanflug einer aus Afrika kommenden Maschine aus dem Fahrwerk gestürzt sein musste, wo er sich wahrscheinlich versteckt hatte. Seine Identität ist bis heute unbekannt.

Flüchtende, die es vielleicht nach Europa schaffen, vielleicht aber auch nicht, die kennenzulernen wir uns nicht einmal die Mühe machen, bevor wir sie schon jagen. Wie Wölfe, immer gut für einen Skandal, auch wenn kaum jemand sie je selbst zu Gesicht bekommen hat. Sind nicht zum Urlaub machen hier, sondern weil sie von irgendwo anders vertrieben wurden. Doch allein die Tatsache, dass sie (von irgendwelchen Kapitalisten abgesteckte) Grenzen überschreiten, macht sie zum Freiwild. Und auch, wenn es nicht unsere Fabrik ist, auch, wenn der Chef uns eh demnächst alle über die Klinge springen lässt: wir lassen uns gegen sie aufwiegeln und machen mit, wenn es heißt: die müssen raus. Auf unterschiedliche Arten, ja, aber die meisten machen mit. Andere sehen/gehen weg. Aber wer hilft?

Sprache, Bilder, Form, Vorstellungs- und Überzeugungskraft, politische Haltung – für mich stimmt in diesem kurzen Roman einfach alles. Ich bin begeistert!

Mehr Infos zum Buch auf den Seiten des Aufbau-Verlags, dem ich dankbar bin dafür, immer wieder neuen, mutigen und politisch engagierten Autor*innen jenseits des Mainstreams ein Forum zu bieten: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/hier-ist-noch-alles-moglich.html

Frances McDormand versus Policemen

Aktuell und brisant – nicht nur in der Filmindustrie: Frauen werden vergewaltigt und umgebracht, und was passiert? Viel zu selten werden die Schuldigen gefunden, noch seltener zur Rechenschaft gezogen – und das Umfeld geht zur Tagesordnung über. In „Three Billboards outside Ebbing, Missouri“ rebelliert eine Mutter dagegen – entschlossen und ziemlich unerbittlich.

Allein, auf der anderen Seite stehen keine Bilderbuchschurken, sondern erst einmal nur die Dorfpolizei. Homophobe Rassisten mitunter, aber eben auch mit eigenen Sorgen, Träumen, Schwächen. (Hier entstehen die witzigen Momente des Films, zum Brüllen komisch gespielt von Sam Rockwell).

Auf der anderen Seite steht aber bald auch der eigene Sohn, dem die Aktionen der Mutter eher peinlich sind und der daneben kaum einen eigenen Umgang mit dem Tod der Schwester finden kann.

Und ohne Sexismus und Rassismus kleinzureden – was betont werden muss – hält sich der Film nicht bei dem unverzeihlich Bösen auf (dem Vergewaltiger und Mörder), sondern zeigt die Graustufen, wo Menschen einander auch Schmerz zufügen, manchmal aus dem eigenen Schmerz heraus blind für den der anderen werden.

„Three Billboards outside Ebbing, Missouri“ ist im positiven Sinne beeindruckend weil am Ende ein zutiefst menschenfreundlicher Film, der den meisten seiner – großartig gespielten – Figuren die Fähigkeit zugesteht, Fehler zu erkennen und zu versuchen, etwas wieder gut zu machen. Auf glaubwürdige Art, also jenseits von großem Pathos, mitunter unbeholfen und ohne Ecken und Kanten zu verlieren.

Das macht zwar die Toten nicht mehr lebendig, aber die Welt, die bleibt, ein Stückchen lebenswerter *.

* Und dieser Ansatz unterscheidet sich wohltuend von Aufrufen zu Selbstjustiz und Migrantenhatz, die eben keine valide Antwort auf den Mord an einer Frau sind. Wer kann möge deshalb am Samstag, den 3.3.2018 nach Kandel in der Pfalz kommen, um gegenrassistische und ultrarechte Instrumentalisierung von sexueller Gewalt zu demonstrieren!

Ich packe meinen Koffer…

Simone Hirth (Jahrgang 1985) lässt in ihrem gerade erschienenen Roman Bananama ein Mädchen sprechen, das noch keine zehn Jahre alt ist und mit ihren Aussteiger-Eltern völlig isoliert vom Rest der Welt irgendwo auf dem Land lebt. Die Eltern haben beide einen gewaltigen Hau. Die Mutter fängt zigtausend Sachen an, darf dabei nicht gestört werden und macht dennoch nichts zu Ende, weil sie „gerade nicht den Kopf dafür frei“ hat. Der Vater fährt ständig zu Tauschbörsen und vermittelt sein aus dem Internet zusammengeklaubtes Halbwissen, verwurschtelt mit einer ziemlich halbgar anmutenden Ideologie, in unerschütterlicher Borniertheit an die Tochter. Die natürlich auch nicht in die Schule gehen darf. Gefühle, Erfahrungen, Widersprüche werden unter den Tisch gekehrt. Keine Geschwister, keine Freundinnen, keine Oma, kein Haustier: die Einsamkeit des Mädchens ist abgrundtief und allumfassend.

Das Kind entwickelt notgedrungen seine eigenen Strategien, sich unter diesen Rahmenbedingungen zurechtzufinden. In diese Entwicklung gehört auch die Aneignung von Sprache. Doch wo Wort und Erleben nicht zusammenpassen, ist das Wort vergiftet. Dafür schenkt uns die Autorin eindrückliche Bilder. So wird das Kind zu Anfang allerlei Wörter begraben – in Einmachgläsern unter dem großen Walnussbaum. Dort landen zum Beispiel die Angst und das Mitleid. Später wird immer wieder etwas in erdachte Koffer gepackt, in der Vorahnung eines Aufbruchs, als Proviant für ein eigenes Leben. Das ist toll und sehr nachvollziehbar.

Gefehlt hat mir bei alledem aber leider: Dynamik. In Überschriften werden zwar immer wieder Ereignisse in Aussicht gestellt, aber die geweckten Erwartungen werden regelmäßig enttäuscht. Vielleicht soll es uns als LeserInnen nicht anders gehen als dem Kind in der Erzählung? Die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren? Bitter.

Auch das Ende hat mich nicht ganz überzeugt, kam für mich unvermittelt und viel zu knapp daher. Ich hätte mir mehr Zeit gewünscht, um mich zu verabschieden. Begraben.

Aus diesem Buch packe ich jedoch in meinen Koffer: die Gabe der Beobachtung und den Drang, sich selbst einen Reim auf die Welt zu machen, als Keim der Rebellion.

Den wunderschönen Einband hat Christine Fischer gestaltet.

Loblieder auf weiblichen Ungehorsam

Von Naomi Alderman werden wir sicherlich noch einiges hören in 2018. Morgen, am 12.2. erscheint die deutsche Übersetzung ihres feministischen Sciene Fiction Romans The Power (auf deutsch: Die Gabe), über den ihre Mentorin Margret Atwood sagt: „Electrifying! Shocking! Will knock your socks off! Then you’ll think twice, about everything“. Ende April kommt die Verfilmung ihres Debütromans Disobedience (auf deutsch: Ungehorsam) ins Kino. Letzteren habe ich gerade gelesen. Und zwar extrem gerne.

Jetzt, wo ich ihn weglege, habe ich einiges über jüdisch-orthodoxes Leben gelernt – aus der Perspektive von Frauen und noch spezieller: von Lesben. Ich mochte die Sprache und das intellektuelle Selbstbewusstsein, mit dem religiöse Traditionen hinterfragt wurden, deren Wirkungen auch in andere Welten hineinreichen. Und ich lebte mit den Figuren und wünschte mir einen guten Ausgang aus ihrer schmerzhaften und sich lange zuspitzenden Lage.

Naomi Alderman, Engländerin Jahrgang 1974, wuchs selbst in einem jüdisch-orthodoxem Umfeld auf. Ein Umfeld, in dem Heiraten und Kinderkriegen religiöse Pflichten sind und Homosexualität ein Tabu. In Disobedience (Ungehorsam) erzählt sie vor diesem Hintergrund von zwei Frauen, die eine Liebesgeschichte verbindet. Die eine, Ronit, lebt inzwischen in New York, hat einen guten Job, einen verheirateten Liebhaber, ein paar oberflächliche Freundschaften und eine Therapeutin. Die andere, Esti, ist in der jüdisch-orthodoxen Gemeinde im Norden Londons geblieben, in der beide aufgewachsen sind. Und hat geheiratet. Der Tod von Ronits Vater bringt beide wieder zusammen. Beide sind nun gezwungen, sich noch einmal mit ihrem lesbischen Begehren und den Reaktionen ihrer Umwelt auseinanderzusetzen. Dies geschieht behutsam und aus verschiedenen Perspektiven. Und nebenbei entsteht ein Gefühl davon, wie diese Welt riecht, schmeckt und tickt, in welchem Rhythmus sie sich bewegt.

Analog zu diesem Rhythmus sind den einzelnen Kapiteln des Buches Zitate aus religiösen Texten vorangestellt, die im Anschluss ausgelegt und diskutiert werden. In orthodoxen Kreisen eigentlich eine den Männern vorbehaltene Aufgabe. Naomi Alderman rebelliert gegen diese Entmündigung und ging dabei so weit, dass sie mit Fertigstellung des Romans aufhörte, sich als religiös zu bezeichnen. “I went into the novel religious and by the end I wasn’t. I wrote myself out of it.”, zitiert The Guardian. Respekt.

Die fundierte Auseinandersetzung mit den Grundfesten des jüdisch-orthodoxen Menschenbilds (von dem wir vieles auch in der christlichen Tradition wiederfinden) regt aber auch unabhängig von Religion zum Nachdenken über die eigene Existenz an. Großes philosophisches Kino, um mal wieder flapsig zu sein.

A Propos Kino. Der Trailer gibt für mich eine ganz andere Stimmung wieder als ich sie lesend erlebt habe. Er wirkt klischeehaft altbacken mit seinen düsteren Farben, den dicht aufeinander folgenden dramatischen Dialogen. Die Sprache des Buches habe ich als viel moderner und bunter empfunden, mit genug Raum für Betrachtung und Sinnlichkeit. Es wäre extrem schade, wenn das im Film verloren ginge und der Inhalt des Romans auf die reine Handlung reduziert würde. Aber einen Versuch wird es wohl trotzdem wert sein, mal wieder ins Kino zu gehen.

Auf Naomi Alderman bin ich übrigens durch die interessante Reihe Women in SciFi auf bingereader.org aufmerksam geworden, wo Miss Booleana „Die Gabe“ vorgestellt hat – danke dafür!

Als Kind in Wackersdorf, mit 30 an der Kasse

Nachdem ich jetzt mehrere Bücher wieder weggelegt habe (u.a. Zadie Smith weil mich das Leben mit einer POP-Ikone auf Dauer langweilt, Lauren Groff weil zu hetero, Eva Dolan weil die politisch aktive junge Frau einem Widerling verfallen ist, der sie mies behandelt), habe ich endlich mal wieder ein Buch zum verschlingen entdeckt: „Das wussten wir schonvon Noemi Schneider.

An der Kasse keines gewöhnlichen, sondern natürlich eines verpackungsfreien Supermarkts treffen wir die Ich-Erzählerin dieses äußerst kurzweiligen und frechen Romans. Eigentlich ist sie Filmemacherin, nur ist Kultur halt eben auch ein Business, in das sie irgendwie nicht reinpasst mit ihren Ideen.

Ihre Mutter, deren Mitgefühl für Flüchtlinge größer zu sein scheint, als das Mitgefühl für die eigene Tochter, überlässt ihr Gartenhaus einem von der Abschiebung bedrohten Salafisten just in dem Moment, als die Erzählerin sich ihre Wohnung nicht mehr leisten kann. Von da aus nimmt eine Geschichte ihren Lauf, die der deutschen Mittelschicht aller Altersstufen sowie sozialen und Mainstream-Medien den Spiegel vorhält und dabei nicht mit wundervoll bizarren Szenen geizt.

Aus Sicht der in den 1980ern geborenen Kinder erleben wir eine politisch linksorientierte und inzwischen gut situierte und selbstgerechte Elterngeneration, die die emotionale Befindlichkeit und die Lebenswirklichkeit ihrer Kinder kaum wahrnimmt. Trotzdem handelt es sich hier nicht um eine überhebliche Abrechnung mit allem, was den Kindern da hinterlassen wird. Stattdessen ist immer spürbar, wieviel Sympathie und Einverständnis die Tochter den Ansichten ihrer immer noch aktiven Mutter in vielen Aspekten entgegenbringt. Und wieviel anarchistische Freude an unkonventionellen Lösungen sie doch geerbt hat. Am Ende gilt es, dieses Erbe in die Gegenwart zu übertragen und den Missständen der Gesellschaft, so wie die jüngere Generation sie antrifft, mit zeitgemäßen Mitteln und auf eigene Art entgegenzutreten. Eine gewisse Distanz allerdings bleibt. Nachvollziehbar.

Wenn ihr hören wollt, wie das klingt: hier liest die Autorin selbst:

… und wenn ihr jetzt noch mehr Motivation braucht: Barbara Junge von der taz war auch ganz begeistert und hat Noemi Schneider 2017 auf der Leipziger Buchmesse getroffen:

Ich habe schon jetzt keine Lust, ne nette Omi zu sein!

Mit wem willst du frühstücken? Mit wem willst du fernsehen? Kreativ sein? Dein Leben verbringen? Das sind wichtige Fragen, und wenn du auf alles nur sagen kannst: Ich kann es mir nicht aussuchen, dann bist du entweder im Gefängnis oder im Altenheim.

Unmissverständlich: Anita Augustin ist zornig. Zornig über den Umgang mit alten Menschen in unserer Gesellschaft, zornig über die Bilder, die Jüngere von „Seniorinnen und Senioren“ entwerfen, zornig über das Romantisieren, wie es in letzter Zeit immer mal wieder vorkommt: die liebe Oma, die ihre Enkel hütet und Lebensweisheiten vermittelt, der Opa, der noch einmal das ganz große Abenteuer wagt. Schön für die, die das können, aber was ist mit denen, die keine Lust haben, eine nette Omi zu sein, oder die es schlicht nicht können?

„Der Zwerg reinigt den Kittel“ ist eine bitter-sarkastische Gewaltphantasie, geboren aus Empörung und Wut, die eine angesichts der Zustände in den „Menschenmülldeponien“ unserer Gesellschaft überkommen können. Die kettenrauchende Rentnerin, aus deren Sicht hier erzählt wird, bewahrt sich allerdings eines bis zum Schluss: ihren Witz und die Kontrolle darüber, wie ihre Geschichte erzählt wird. Ein letzter Rest ihrer Autonomie.

„Menschenmüll “ ist ein Zitat aus diesem ungewöhnlichen Buchtrailer, in dem die Autorin sich, ihr Handwerk und das Buch vorstellt:

„Der Zwerg reinigt den Kittel“ ist Punk, und wem Punk gut tut, weil manches einfach nicht anders zu kommentieren ist als kotzend, und nicht anders zu ertragen als in Gemeinschaft mit anderen, die auch ungefiltert Scheisse brüllen können, dem oder der wird auch dieses Buch „gefallen“. Und dann kannst du hin und wieder auch lachen.

Rassismus am Roten Fluss

Muss mir erstmal Staub und Weizenspreu aus den Klamotten klopfen: Anders als die Figuren in Katie hat Cash, die Protagonistin des 2017 erschienenen Romans Am roten Fluss mich komplett in ihre Welt mitgenommen.

Cash, wie ihre Autorin Marcie Rendon Stammesangehörige der Anishinabe White Earth Nation, ist ein touhges junges Weib: mit 19 Jahren hat sie bereits gelernt, sich gegen Widerstände und Ungerechtigkeiten im Leben alleine durchzuschlagen. Den Zumutungen weiblicher Rollenbilder der Weißen hat sie sich früh entzogen, lieber hält sie mit den Kerlen mit, die sich in dieser Region der USA sämtlich als Farmarbeiter verdingen. Wir sind in den 1970er Jahren. Es riecht nach Weizen und harter Arbeit, und immer wieder auch nach abgestandenen Bieren und Rauch in den Bars, in denen Cash ihren Feierabend am Billardtisch verbringt. Country-Musik ist zu hören und ein rauer Umgangston, mal eher kumpelhaft und respektvoll, mal voller Verachtung für diese ungewöhnliche junge Frau. Mit Cash fahre ich im Pickup endlose, gerade Straßen entlang, genieße die friedlichen Momente dieser Fahrten und sehe dabei riesige, fruchtbare Anbauflächen vorüberziehen und den baumgesäumten Lauf des Roten Flusses, der das Land durchzieht und nährt. Es ist, als wäre ich tatsächlich dort gewesen.

Mich für ein paar Stunden völlig in diese mir bis dahin ganz unbekannte Welt hineinzuziehen, ist der erste große Verdienst der Autorin und des ÜbersetzerInnen-Duos (Laudan&Szelinski).

Dann wird die Leiche eines indianischen Landarbeiters gefunden und Cash von einer inneren Stimme direkt zu dessen Familie gerufen. Was sie dort erlebt, hat zu viele Parallelen zu ihrer eigenen Kindheit, als dass es sie kalt lassen könnte: Armut, Alkoholismus und eine drohende Zwangs-Inobhutnahme der Kinder. Was das bedeutet, weiß Cash aus eigener Erfahrung: den Verlust von Heimat, familiären Beziehungen und kultureller Verwurzelung, Rassismus, Misshandlungen und Ausbeutung in weißen Pflegefamilien, Einsamkeit, Einsamkeit. Das ist auch das große Thema des Romans, die Aufklärung des Mordes passiert – so empfand ich es – mehr so nebenbei.

Der zweite Aspekt, für den ich Marcie Redon also danken möchte: hier wird ein politisches Thema nachvollziehbar, nämlich welche Traumata durch die Politik der USA gegenüber der indigenen Bevölkerung über Generationen hinweg entstanden sind. Die Autorin gibt in einem Nachwort Hinweise, wo Betroffene und UnterstützerInnen weitere Informationen zum Thema finden können. Unter Donald Trump wird dies weiterhin dringend nötig sein.

Zu guter Letzt verdanke ich dem Buch die Anregung für meinen nächsten Blogartikel. Bleibt also dran!