Der Unterschied zwischen einer Meinung und einem besseren Plan

Wenn sogar der Ethikrat eine Debatte über die Beendigung der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie fordert, sollten wir vielleicht vorab klären, über was geredet werden soll. Ich sage, es kann hier nicht um einen Austausch von Meinungen und Befindlichkeiten gehen. Das einzige, worüber eine Debatte lohnt, wären alternative, begründete und durchdachte Krisenstrategien. Solche sehe ich allerdings bis jetzt nicht – leider.

Die Medien transportieren in den letzten Tagen zunehmend mehr Äußerungen des Unmuts über eine Fortsetzung der Kontaktverbote für Gruppen von mehr als 2 Personen. Wie repräsentativ das ist, ist schwer zu sagen. Ja, ich kenne Menschen, die die Situation sehr belastet. Aber auch von denen sind einige überzeugt, dass strenge Maßnahmen notwendig sind. Vor allem, wenn sie aus Corona-Hotspots kommen und aus eigener Anschauung wissen, dass es bei weitem nicht nur die Ältesten sind, die einen schweren Verlauf haben können. Auf der anderen Seite gibt es sogar unter denen, denen es eigentlich auch jetzt ganz gut geht, Stimmen, die ihre Normalität von vor Corona wieder haben wollen.

Plötzlich tauchen genau da auch die AfD und die FDP wieder aus der Versenkung auf. Passend platziert direkt nach düsteren Rezessionsprognosen dürfen sie in der Tagesschau erklären, dass jetzt langsam im Sinne einer Rettung der Wirtschaft aber mal Schluss sein müsse mit dem „totalen Shutdown“ (eine etwas exaltierte Wortwahl, wie ich finde, für das was wir gerade erleben, wo vieles immer noch funktioniert).

Aber Leute: wo sind eure Gegenvorschläge? Könnt ihr darlegen, wie sich, bei allem, was wir über die Ausbreitung des Virus, unser Gesundheitssystem- und unser Wirtschaftssystem wissen, die Zukunft entwickeln könnte, wenn wir jetzt einfach mal zurück auf „Normal“ gehen? Ich habe noch kein entsprechendes Szenario gesehen. (Weidel ist ja der Auffassung, die deutsche Wirtschaft müsse dann aus Geldern saniert werden, die durch Fallenlassen aller Klimaschutzprogramme und von sozialer Gleichstellungspolitik frei werden könnten. Dazwischen soll wahrscheinlich das Militär dafür sorgen, dass Verteilungskämpfe verschleiert und der Schein der „Normalität“ für ein paar wenige hier in Deutschland aufrecht erhalten werden.).

Diejenigen, die Entscheidungen über die Maßnahmen bis hierher getroffen haben, haben allerdings ihre Daten und die von ihnen zu Grunde gelegten möglichen Szenarien öffentlich nachvollziehbar angegeben. Eine gute Zusammenfassung findet sich zum Beispiel hier (maiLab). Und der Plan wäre, die Folgen gemeinsam zu schultern. Ich trete gerne etwas kürzer, wenn dafür am Ende alle halbwegs gut durchkommen. Ehrensache. (Vielleicht auch eine Gelegenheit, mal wieder über das Thema Einheitslohn nachzudenken).

Es gibt ein interessantes Gedankenexperiment von John Rawls, der meint, gerechte Entscheidungen kommen nur dann heraus, wenn die, die sie treffen, nicht wissen, auf welcher Seite sie am Ende stehen werden. Übertragen auf die aktuelle Situation: wir sollten Entscheidungen treffen, die wir auch dann noch richtig fänden, wenn wir z.b. selbst ein Beatmungsgerät bräuchten um zu überleben, selbst im Schichtdienst im Krankenhaus angestellt wären, selbst arbeitslos würden, selbst einen Betrieb zu leiten hätten, selbst mit 2 Kindern in einer engen Mietwohnung leben müssten, selbst in einem Flüchtlingslager auf einer griechischen Insel eingepfercht wären, etc.

Ich frage mich das oft, wenn Leute einfach nicht weiter als bis zur eigenen Schuhspitze denken, wie das wäre, wenn sie plötzlich auf der anderen Seite ihrer kleinen Gedanken aufwachen würden. Eigentlich hoffe ich, dass sie das tun, bevor sie in der echten Welt noch mehr Schaden anrichten als sie eh schon erleidet.

Habt ihr Anmerkungen oder einen besseren Plan? Dann hinterlasst doch einen Kommentar!

UnFAIRe Bürgerwissenschaften

Unter dem Label „Bürgerwissenschaften“ oder “Citizen Science” werden derzeit Menschen wie du und ich zum Datensammeln animiert. Was dahinter steckt, was daran gar nicht FAIR ist, und was Daten- von Pilzsammler*innen lernen könnten, darüber schreibe ich in diesem Artikel.

Mykologie – Pilzkunde – war schon immer “Citizen Science”, zumindest, wenn wir den Begriff “Citizen” hier nicht überstrapazieren wollen. Menschen haben hier und in vielen anderen Teilen der Welt schon immer Pilze gesucht und gesammelt. Pilze werden und wurden gegessen, zu Heilzwecken oder in spirituellen Zeremonien verwendet. Manche sind essbar, andere giftig, manche helfen beim Bierbrauen oder Backen, andere beim Feuermachen.

Um für die gewünschten Zwecke den jeweils richtigen Pilz zu finden, ist es wichtig, einiges über Pilze zu lernen: wie sie aussehen, in welchen winzigen Details sich die einen von den anderen unterscheiden, wann und wo sie auftauchen, wann und wo es keinen Sinn macht, sie zu suchen und vieles mehr. Menschen, die solches Wissen erworben hatten, gab es lange bevor die akademischen Wissenschaften auf den Plan traten, wo die Welt der Pilze bis ins 18. Jahrhundert ein Randgruppendasein im Schatten der Botanik fristete.

Später wurde den Pilzen, zu denen auch Hefen und Schleime gehören, ihr eigenes taxonomisches Königreich gegeben – denn nach geltenden Definitionen sind sie weder Tier noch Pflanze. Tiere bewegen sich selbständig, Pilze breiten sich aus: der größte und älteste lebende Organismus der Erde ist ein Hallimasch – er ist über 900 qkm groß und mehr als 2000 Jahre alt. Während jedoch Pflanzen Fotosynthese betreiben und damit ihre Nahrung selbst herstellen, ernähren sich Pilze indem sie Enzyme ausscheiden – sie verdauen außerhalb ihres Körpers. Auf diese Art zersetzen sie totes wie lebendes Material und machen die Nährstoffe (z.B. Mineralien) daraus für sich selbst oder Partnerwesen (Moose, Flechten, Pflanzen, Tiere) verfügbar. Doch welche Bedeutung ihnen damit zukommt, wurde nicht durch systematisch- wissenschaftliche Beschreibung, sondern per Zufall erkannt. Die Entdeckung des Penizillins erweiterte den wissenschaftlichen Horizont nicht nur auf medizinischem Gebiet.

Pilze waren und sind große Zerstörer*innen und Gestalter*innen unserer Welt. Ohne sie wäre an Land kein Leben entstanden oder es wäre schon längst wieder am eigenen Abfall erstickt. Es gibt Grund zur Hoffnung, dass einige Pilze eines Tages auch mit unserem Plastikmüll klarkommen werden .

Bürger*innen, die viel zu selten als Expert*innen jenseits akademischer Welten betrachtet werden, haben vielleicht auch dies irgendwo anders in der Welt schon längst beobachtet, zum Beispiel auf den Müllbergen indischer Großstädte. Genauso wie die antibiotische Wirkweise von bestimmten Pilzen in China bereits vor Jahrhunderten genutzt wurde .

Um die Probleme unserer Welt zu lösen ist es wichtig, dass solcherart Wissen zugänglich und damit global nutzbar gemacht wird. Im besten Fall profitieren alle davon, im schlechtesten haben wir auf anderer Ebene versagt, was hier aber nicht Thema sein soll.

These 1:

Am Anfang war “Citizen Science”. Es gibt auch heute jede Menge Wissen und Wissensproduktion außerhalb der akademischen Wissenschaften. Dieses Wissen zu erschließen kann gesellschaftlich von großem Nutzen sein.

“Citizen Science” als Grundlage für automatisierte Wissensproduktion.

Was also soll dieses neue Label “Citizen Science”? Wer meint was damit? Und zu welcher Form der Wissenschaft wird das führen?

Dem Positionspapier des Directorate-General for Research and Innovation der Europäischen Kommision von 2016 wird allen Überlegungen ein Vorwort ihres damaligen Präsidenten, Jean-Claude Juncker, vorangestellt, das mit den Worten beginnt: “Research and innovation create investment opportunities” [EU, 2016, S.5]. Um dies und nichts anderes geht es. Das Problem, um das in diesem Bericht alles kreist, ist die Tatsache, dass Europa a) in Sachen Wissenschaft weltweit nicht an der Spitze steht und b) die zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht schnell genug und nicht in für die Autoren (men only) ausreichendem Maße in Geld umwandeln kann. Die vorgeschlagene Lösung des Problems: Forschung standardisieren und damit für Startups leicht nutzbar machen. Dass damit gleichzeitig ein Heer unbezahlter Mitarbeiter*innen rekrutiert wird, das teure akademische oder unternehmerische Feldforschung zunehmend überflüssig machen könnte, ist demgegenüber wahrscheinlich nur ein angenehmer Nebeneffekt.

Ähnlich wie die Verlagerung von bezahlter Care-Arbeit auf das Ehrenamt, könnte diese Strategie auch im Bereich der Wissenschaften funktionieren, weil es die Menschen bei ihrem Wunsch nach Anerkennung und nach sinnvoller Beschäftigung packt.

Unter “Citizen Science” und den als solchen öffentlich geförderten Projekten sind also mit der EU-Strategie solche zu verstehen, die Bürger*innen jenseits des etablierten Wissenschaftsbetriebs die Möglichkeit zur Beteiligung bieten, und die am Ende standardisierte, d.h. direkt für die ökonomische Verwertung aufbereitete Daten liefern. Die Anforderungen an die entsprechende Wissensproduktion werden dabei ausgerechnet unter dem Label FAIR („findable, accessible, interoperable and reusable“) zusammengefasst.

Diese Forderungen sind mit Hilfe aktueller Technologien leicht umzusetzen. Sehen wir uns die Projekte an, die auf der deutschen Citizen Science Plattform „Bürger schaffen Wissen“ aufgelistet werden, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass die Teilnahme meist über Apps oder Online-Formulare erfolgt.

Wo dies ausschließlich der Fall ist, finden gesellschaftsrelevante und gemeinschaftsbildende Effekte, mit denen „Citizen Science“ oft verbunden wird, überhaupt nicht mehr statt [vgl. Kinchy und Kimura, 2016].

Ein typisches „Citizen Science“-Projekt im Bereich der Pilzkunde, ist der „Pilzfinder“ der Universität Wien . Ein ähnliches Projekt gibt es in Deutschland , dort wird jedoch nicht ausdrücklich auf den Begriff „Citizen Science“ Bezug genommen.

Als Projektziele werden in beiden Fällen zwar Kartierung, Entdeckung neuer Arten, und ein Monitoring des Klimawandels genannt. Aber Mitmachen heißt letztlich Datensammeln. Die angebotenen Apps und Online-Formulare sorgen für die nötige Standardisierung und versehen Kamera-Aufnahmen gleich mit zuverlässigen GPS-Koordinaten und dem genauen Zeitpunkt der Aufnahme, und wer weiß, mit was für Daten aus dem Smartphone noch (aber ich will jetzt hier nicht über Datenschutz und Privatheit reden). Bei “Citizen Science”-Projekten in anderen Bereichen ist es genauso. Ambitionierte Bürger*innen können in ähnlicher Weise Wildtiere in der Stadt, Vogelstimmen, Insektenbilder und vieles mehr aufnehmen und verschicken.

Die so gesammelten und standardisierten Daten können genutzt werden, um Software zu trainieren. Dabei gilt: Je mehr Daten, desto besser “lernt” die Maschine.

Die Ergebnisse dieser Art des Lernens, also das, was “künstliche Intelligenz” am Ende hervorbringt, ist Mustererkennung. Dahinter stehen oft sehr komplexe mathematische Funktionen, aber nur selten in Worte fassbare und damit nachvollziehbare und hinterfragbare Erkenntnisse. Funktionieren tut dies allerdings häufig sehr gut. (Z.b. im Bereich der Spracherkennung. Früher hat die Linguistik nach den universellen Regeln zur formalen Analyse von Sprache gesucht, bis Google und andere, die über den nötigen Datenkorpus verfügten, mit ihren auf Wahrscheinlichkeitsrechnung basierenden Algorithmen in kürzester Zeit viel bessere Ergebnisse vorlegten).

Heute werden Computerprogramme noch zum allergrößten Teil von Menschen geschrieben. Aber schon wird daran geforscht, selbst die Programmierung zu automatisieren. Mit den online verfügbaren riesigen Mengen an Quellcode (Open Source sei Dank) werden Maschinen trainiert mit dem Ziel, auch Software künftig maschinell zu entwicklen. Auf dieselbe Art könnte sich auch wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung automatisieren lassen. Doch zu welchem Preis?

Cathy O‘Neill hat in ihrem Buch „Weapons of Math Destruction“ [O’Neill, 2016] ausführlich dargelegt, wo die gesellschaftlichen und erkenntnistheoretischen Gefahren maschinellen Lernens liegen: in der möglichen Perpetuierung von Vor- und Fehlurteilen, in der Verschleierung eben dieser, in einem zunehmenden Verlust von Transparenz und demokratischen Einflussmöglichkeiten.

These 2:

Hinter “Citizen Science” steht in der EU in erster Linie ein ökonomisch motiviertes Datensammlungsprojekt.

These 3:

Die Sammlung immer größerer Mengen standardisierter – im EU-Sprech „FAIRer“ – Daten ist zugleich die Voraussetzung für die Automatisierung von Wissensproduktion.

These 4:

In Zukunft werden nicht mehr Menschen darüber bestimmen, was für Erkenntnisse aus Daten generiert werden. Nur noch wenige Menschen werden diese Erkenntnisse verstehen, hinterfragen und beurteilen können.

These 5:

Damit ist „Citizen Science“ letztlich ein Angriff auf Transparenz und das Gegenteil von einer Demokratisierung der Wissenschaften.

Anderes Wissen ist möglich und nötig.

Pilzesammeln als besseres Modell für die Betrachtung der Welt.

Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing hat in ihrem wunderbaren, der Philosophin Donna Haraway gewidmeten Aufsatz “Mushrooms as Companion Species” [Tsing, 2012] eine ganz andere Art von Erkenntnisprozess geschildert, der das Finden von Pilzen begleiten kann. Dieser Erkenntnisprozess beginnt mit der Freude, vielleicht der Dankbarkeit über unseren Fund. Die meisten Pilze lassen sich nicht züchten, wir müssen sie suchen, und wenn wir sie dann entdecken, erleben wir die Begegnung mit ihnen oft als Geschenk. Pilze sind kein Privateigentum, wir können sie nicht kaufen, um ihnen zu begegnen müssen wir sie kennenlernen. Wir machen uns mit der Umgebung vertraut, in der Hoffnung, sie das nächste Mal noch gezielter suchen zu können, denn viele Pilze leben in Partnerschaft mit bestimmten Pflanzen, bevorzugen bestimmte Böden oder Witterungsverhältnisse.

Wer Pilze beobachtet kann auch die Auswirkungen menschlichen Handelns beobachten. Wo Getreide und anderes in Monokultur angebaut wird, wo Landwirt*innen mit stickstoffhaltigem Dünger arbeiten, wo Forstwirt*innen durch den Einsatz schwerer Maschinen den Boden verdichten, da werden Pilzfunde selten, die ökologischen Folgen unseres gesellschaftlichen Handelns spürbar. Die Bedeutung der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Wesen, für die wir Menschen oft blind sind, kann beim Pilzesammeln ganz unmittelbar erfahren werden.

Und hier reden wir nur von den sogenannten Großpilzen, denjenigen, deren Fruchtkörper wir sehen können, nicht von den unzähligen Arten, die ungesehen in und mit uns auf diesem Planeten leben.

These 6:

Auch im Bereich der Wissenschaften bedrohen Monokultur und zunehmende Reduzierung der Artenvielfalt unsere Existenz.

These 7:

Die Beschäftigung mit Pilzen führt uns direkt über eine ego- oder anthropo-zentrische Weltsicht hinaus in Erfahrungswelten des Miteinander und der unauflöslichen Verflechtungen, die zugleich Leben und Vergehen bringen, und deren Zukunft wir nicht kennen, sondern mit-erschaffen.

Und hier käme vielleicht auch noch einmal Paul Feyerabend zum Einsatz, der ja – nicht als einziger in der Geschichte, aber unermüdlich – darauf hingewiesen hat, dass qualitative Fortschritte in den (Theoriebildungen der) Wissenschaften gerade nicht auf geflissentlich befolgten Regeln und Standards, sondern auf dem Bruch mit der herrschenden Norm, dem plötzlichen Wechsel der Gangart und der Entdeckung radikal anderer Sichtweisen beruhen [Feyerabend, 1980]. Oder, wie Pilzsammler*innen sagen würden: spannend wird es jenseits der bekannten Wege, da wo niemand vor uns war, in den realen, mit allen Sinnen erfahrbaren, unermesslichen Verflechtungen des Lebens.

Literatur

Directorate-General for Research and Innovation (European Commission): Open Innovation, Open Science, Open to the World: a Vision for Europe, 2016.

Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen, 1980.

Aya H. Kimura und Abby J. Kinchy : Citizen Science: Probing the Virtues and Contexts of Participatory Research, 2016.

Cathy O’Neil: Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy. USA, 2016 .

Anna Tsing: Unruly Edges: Mushrooms as Companion Species. Department of Anthropology, University of California, Santa Cruz, USA, 2012. (Online unter http://tsingmushrooms.blogspot.com/, abgerufen am 23.7.2019)

Jäger und Verjagte

Die Fabrik, das wissen alle, hat ihre besten Zeit weit hinter sich und wird bald schließen. Doch nicht das ist die größte Sorge des Chefs und der wenigen verbliebenen Mitarbeiter*innen, sondern ein Wolf, der angeblich auf dem Fabrikgelände gesehen wurde.

Nach und nach stellt die dreißigjährige Schweizer Autorin Gianna Molinari in ihrem Roman „Hier ist noch alles möglich“ das auf unterschiedliche Weisen zu Jägern werdende Fabrikpersonal vor. Da sind neben dem selbstverliebten Chef zunächst die Befehlsempfänger, die Protagonistin und ihr Kollege, die sich beim gemeinsamen Fallenbauen näher kommen. Da ist einer, der – „einer muss es ja tun“ – am liebsten sofort zum Gewehr greifen würde. Und der sich gleichzeitig, wenn es um seine persönliche Zukunft geht, ins Weltall träumt, anstatt aktiv zu werden und/oder von Bord des sinkenden Schiffs zu springen. Das wiederum tun andere – und werden damit selbst auf eine Art zu Vertriebenen, auch wenn auf sie nicht gleich Jagd gemacht wird.

Doch wer ist eigentlich der Gejagte? Nur, wer ihm nichts tut, kann in diesem Roman vielleicht einmal aus der Ferne einen Blick auf ihn erhaschen. Und doch nichts über ihn wissen.

Die skurrile Geschichte der Jagd auf einen Wolf in den Ruinen der Industrialisierung ist für sich schon ganz wunderbar. Toll erzählt, einprägsam in Atmosphäre, Bildern und Charakteren.

Gianna Molinari legt aber noch eine zweite Ebene darüber. Die Erzählerin begegnet innerhalb der Romanhandlung nämlich der leider nicht fiktiven Geschichte vom „Mann, der vom Himmel fiel“. 2010 wurde in der Schweiz ein dunkelhäutiger Mann tot aufgefunden, dessen Herkunft sich zunächst niemand erklären konnte. Schließlich wurde vermutet, dass er beim Landeanflug einer aus Afrika kommenden Maschine aus dem Fahrwerk gestürzt sein musste, wo er sich wahrscheinlich versteckt hatte. Seine Identität ist bis heute unbekannt.

Flüchtende, die es vielleicht nach Europa schaffen, vielleicht aber auch nicht, die kennenzulernen wir uns nicht einmal die Mühe machen, bevor wir sie schon jagen. Wie Wölfe, immer gut für einen Skandal, auch wenn kaum jemand sie je selbst zu Gesicht bekommen hat. Sind nicht zum Urlaub machen hier, sondern weil sie von irgendwo anders vertrieben wurden. Doch allein die Tatsache, dass sie (von irgendwelchen Kapitalisten abgesteckte) Grenzen überschreiten, macht sie zum Freiwild. Und auch, wenn es nicht unsere Fabrik ist, auch, wenn der Chef uns eh demnächst alle über die Klinge springen lässt: wir lassen uns gegen sie aufwiegeln und machen mit, wenn es heißt: die müssen raus. Auf unterschiedliche Arten, ja, aber die meisten machen mit. Andere sehen/gehen weg. Aber wer hilft?

Sprache, Bilder, Form, Vorstellungs- und Überzeugungskraft, politische Haltung – für mich stimmt in diesem kurzen Roman einfach alles. Ich bin begeistert!

Mehr Infos zum Buch auf den Seiten des Aufbau-Verlags, dem ich dankbar bin dafür, immer wieder neuen, mutigen und politisch engagierten Autor*innen jenseits des Mainstreams ein Forum zu bieten: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/hier-ist-noch-alles-moglich.html

Ich packe meinen Koffer…

Simone Hirth (Jahrgang 1985) lässt in ihrem gerade erschienenen Roman Bananama ein Mädchen sprechen, das noch keine zehn Jahre alt ist und mit ihren Aussteiger-Eltern völlig isoliert vom Rest der Welt irgendwo auf dem Land lebt. Die Eltern haben beide einen gewaltigen Hau. Die Mutter fängt zigtausend Sachen an, darf dabei nicht gestört werden und macht dennoch nichts zu Ende, weil sie „gerade nicht den Kopf dafür frei“ hat. Der Vater fährt ständig zu Tauschbörsen und vermittelt sein aus dem Internet zusammengeklaubtes Halbwissen, verwurschtelt mit einer ziemlich halbgar anmutenden Ideologie, in unerschütterlicher Borniertheit an die Tochter. Die natürlich auch nicht in die Schule gehen darf. Gefühle, Erfahrungen, Widersprüche werden unter den Tisch gekehrt. Keine Geschwister, keine Freundinnen, keine Oma, kein Haustier: die Einsamkeit des Mädchens ist abgrundtief und allumfassend.

Das Kind entwickelt notgedrungen seine eigenen Strategien, sich unter diesen Rahmenbedingungen zurechtzufinden. In diese Entwicklung gehört auch die Aneignung von Sprache. Doch wo Wort und Erleben nicht zusammenpassen, ist das Wort vergiftet. Dafür schenkt uns die Autorin eindrückliche Bilder. So wird das Kind zu Anfang allerlei Wörter begraben – in Einmachgläsern unter dem großen Walnussbaum. Dort landen zum Beispiel die Angst und das Mitleid. Später wird immer wieder etwas in erdachte Koffer gepackt, in der Vorahnung eines Aufbruchs, als Proviant für ein eigenes Leben. Das ist toll und sehr nachvollziehbar.

Gefehlt hat mir bei alledem aber leider: Dynamik. In Überschriften werden zwar immer wieder Ereignisse in Aussicht gestellt, aber die geweckten Erwartungen werden regelmäßig enttäuscht. Vielleicht soll es uns als LeserInnen nicht anders gehen als dem Kind in der Erzählung? Die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren? Bitter.

Auch das Ende hat mich nicht ganz überzeugt, kam für mich unvermittelt und viel zu knapp daher. Ich hätte mir mehr Zeit gewünscht, um mich zu verabschieden. Begraben.

Aus diesem Buch packe ich jedoch in meinen Koffer: die Gabe der Beobachtung und den Drang, sich selbst einen Reim auf die Welt zu machen, als Keim der Rebellion.

Den wunderschönen Einband hat Christine Fischer gestaltet.

Es ist genug für alle da!

Ein bißchen Nachlesen über den damals sogenannten „Brotkorb der Welt“ (angeregt durch die Lektüre von „Am Roten Fluss“ ) hat mich dazu bewegt, mich mal wieder mit der Frage zu befassen, woher eigentlich global gesehen in den nächsten Jahrzehnten unser Essen kommen könnte. Dabei bin ich auf ein paar interessante Fakten gestoßen.

Seit 1948 ist die Menge in der US-Landwirtschaft eingesetzter Produktionsfaktoren (Arbeit, Land, Kapital) praktisch unverändert geblieben, während der Ausstoss der Farmen sich fast verdreifacht hat….

(Quelle: NZZ)

Wissenschaft und Technik tragen maßgeblich dazu bei, die Produktivität kontinuierlich zu steigern – und dazu braucht es nicht nur Chemie.

Im Laufe der Zeit haben sich entsprechend die Beiträge an die Produktivität gewandelt. Waren ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Mechanisierung und Chemikalien entscheidend, ist von 1980 bis 2009 der Maschinenpark geschrumpft, der Einsatz von Land und Arbeitskräften zurückgegangen, und der Einsatz von Chemikalien hat sich verlangsamt. Trotzdem nahm die Produktion in dieser Zeit um jährlich 1,5% zu….

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat zudem eine richtiggehende Revolution stattgefunden, was das wissenschaftliche Verständnis lebender Organismen und die Datenverarbeitung betrifft. Saatgut wird zunehmend wetter- und krankheitsresistent, Traktoren werden von Satelliten gesteuert und düngen und säen auf den Zentimeter genau, Bodensonden melden, wann wo wie viel bewässert werden muss…

(Quelle: NZZ)

Und wenn AgrarwissenschaftlerInnen heute auch besser denn je wissen, was im Sinne von Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung bei alledem zu beachten wäre  (zb laut dieser Studie): Was könnte die Menschheit dann noch daran hindern, genug zu essen für alle zu produzieren?

Die Welternährungsorganisation FAO hat 2015 einen Plan (Path to Zero Hunger by 2030) aufgestellt, der das Ziel hat, bis 2030 den Hunger in der Welt abzuschaffen. Bis dahin wird es voraussichtlich über 8 Milliarden Menschen geben. Immer mehr Menschen, und trotzdem könnte genug für alle da sein.

Zu den wichtigsten Maßnahmen, die zur Abschaffung des Hungers auf der Welt führen, gehören allerdings zwei Dinge: auf der einen Seite eine Steigerung der Produktivität (check), auf der anderen Seite eine Verbesserung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für alle – und hier liegt das Problem.

Das Perverse ist, dass über die Jahrzehnte trotz wachsender Produktivität für die Masse der Menschen kein besseres Leben herausgesprungen ist. Dass das Wissen und das Können der Menschheit nicht so eingesetzt werden, dass der Hunger ausgerottet wird (und nicht die Tiere).

Hier in den Metropolen wird uns weisgemacht, dass Reallöhne und Renten sinken, weil wir mehr werden (mehr Kranke, mehr Alte, mehr Arbeitslose). In der Peripherie leiden weiterhin Millionen an Hunger und Armut. Und das, obwohl wir mit immer weniger Aufwand und Ressourcen immer mehr produzieren. Die Früchte dieser Entwicklung kommen aber bislang nur einigen Wenigen zu Gute, ganz nach dem Motto: Nur wer hat, der kriegt.

Ein paar Schritte dahin, dies zu ändern, stehen auch im Plan der FAO, wer beobachten möchte, was sich in diesem Zusammenhang tut, kann neue Entwicklungen auf http://www.agrardebatte.de verfolgen.

Und immer, wenn jemand mit dem Argument, irgendetwas würde nicht reichen, andere ausgrenzen will, sollten wir uns diese Fakten mal wieder vor Augen halten.

 

Rückkehr nach Reims … gespielt in Deutschland

Nach der Premiere von “Rückkehr nach Reims“ an der Berliner Schaubühne stehe ich vor einer Menge Fragen.  In dem hier als Aufhänger benutzen Buch des französischen Soziologen Didier Eribon ( hier zur Verlagsinfo) geht es um die Auseinandersetzung eines homosexuellen Intellektuellen mit seiner proletarischen Herkunft und um die Frage, warum rechte Bewegungen heute in solchen Milieus starken Zulauf genießen. Auf der Bühne stellt Hauptdarstellerin Nina Hoss dem den Lebenslauf ihres Vaters gegenüber, früher Kommunist, Gewerkschafter und Gründungsmitglied der Grünen. Diese Entscheidung finde ich eher irritierend als erhellend.

Fragen an Didier Eribon – oder an mich.

Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von einer neuen intellektuellen Avantgarde träumen, davon, der Klasse der Ausgeschlossenen (ArbeiterInnen?) eine neue Führung anbieten zu können? 

Würde sich darin nicht genau jene soziale Gewalt fortsetzen, deren Auswirkungen sie gerade erst (für sich) entdeckt haben?

Haben Sie Ihren intellektuellen und persönlichen Einsatz für dieses Buch auf der Bühne wiedergesehen? 

Fragen an Nina Hoss – oder an Thomas Ostermeier – oder an mich.

Wo genau liegt die Bedeutung der Lebensführung Ihres Vaters im Vergleich mit der von Herrn Eribon Senior? Hätte das deutlicher herausgearbeitet werden können?

Respekt vor der gezeigten Integrität Ihres Vaters, aber: Warum konnte es nicht ein französischer Gegenentwurf sein?

Warum überhaupt ein individueller Ausnahme-Lebenslauf gegen eine soziologische Analyse? 

Sind Sie nicht einfach saufroh, dass Sie es mit Ihrem Vater und Ihrer Beziehung zu ihm offensichtlich viel einfacher hatten als Herr Eribon? Warum nicht Danke sagen zum Schicksal und sich trotzdem mit den eingebrachten Fragen intellektuell auseinandersetzen?

Fragen an Thomas Ostermeier – oder an mich.

Haben die Deutschen die besseren Geschichten von Arbeiterkampf?

Warum endet die Diskussion zweier Kulturschaffender mit einem weißen deutschen Heilsbringer am Amazonas?

Warum fehlt der Mut, mehr Klarheit in den Köpfen zu fordern? Oder sollte ich auf diesen Gedanken angesichts des zuweilen hilflosen Gestammels der Figuren auf der Bühne selbst kommen? Angeregt durch die einzige Figur, die sich noch auszudrücken wusste: den kiffenden, beinahe alleinerziehenden Rapper aus dem Studio?

Lob an die Bühnenbildnerin. Und das ganze Team vor und hinter den Kulissen. Eure Arbeit ist nicht umsonst, der Abend geht mir deutlich nach. Und zwar mit schönen und starken Bildern von der Aufführung vor unaufgeregt, aber bedeutungstragend und warm gestalteter Bühne. Und dafür ganz herzlich: danke.