Hilfreiche Formen des Denkens

Als unerwartet inspirierend erweist sich gerade ein Buch, das ich eher zufällig beim Stöbern in der Onleihe gefunden habe: „Denken wie Einstein“ von Theresa Bäuerlein und Shai Tubali. Ohne sie explizit zu stellen, beantwortet das Buch wichtige Fragen zum Zustand der Demokratie im Zeitalter von Copy-Paste-Kommunikation und Kurznachrichten, Social Media und automatisiertem Lernen.

Die Frage, die sich die Autor*innen stellen, lautet aber zunächst: Was unterscheidet das Denken von Leuten, die für bekannte Probleme geniale Lösungen gefunden haben, vom Denken der vielen anderen, die daran gescheitert sind? Was können wir von Ihnen lernen?

Exemplarisch werden hierfür 10 Persönlichkeiten betrachtet, die als herausragende Denker*innen gelten.

Die folgenden Zitate sind als Notizen fürs eigene Weiterdenken gedacht und sollen gleichzeitig einen Eindruck davon vermitteln, was Theresa Bäuerlein und Shai Tubali herausarbeiten wollen.

So geht es zum Beispiel im Abschnitt über Albert Einstein vor allem um die Begrenztheit sprachlichen Denkens:

Entdeckungen setzen die Bereitschaft voraus, dass der Entdecker eine Wahrheit akzeptieren kann, die außerhalb bereits bekannten und vertrauten Wissens liegt. (S.18)

Das sprachliche Denken kreiert erst allerlei Kategorien in der Realität und verfängt sich dann in ihnen. (S.35)

Es gibt mindestens vier nicht-sprachliche Mittel, von denen Einstein ausführlich Gebrauch machte: …die Musik, …Phantasie und Visualisierung,… Meditation und Intuition… (S.38).

Die Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche führt zu einer Warnung vor Bequemlichkeit:

Die Bequemlichkeit des bereits Bekannten lässt sich nicht leicht von Wahrheit unterscheiden. Kognitive Leichtigkeit (Anm.: ein Begriff von Daniel Kahnemann, immerhin selbst Nobelpreisträger) bestimmt, dass etwas wahr ist, wenn’s sich ‚wahr anfühlt‘, ‚gut anfühlt‘ und ‚mühelos anfühlt‘. (S.58)

Das ist selbstverständlich

…gefährlich, da unser Denken dann eine ‚Wahrheit‘ will, die in Wirklichkeit nur ein demütiger Diener des emotionalen Zustands ist, den wir haben möchten, entsprechend machen wir horrende Fehler in unseren Urteilen und Voraussagen. Nietzsche hatte den Verdacht, dass das Bewertungssystem des Menschen so funktionierte, und Kahnemanns Forschung bestätigt es. … wenn man glauben will, dass eine Schlussfolgerung richtig ist – und man wird es glauben wollen, wenn sich das gut anfühlt -, dann glaubt man auch jedem Argument, das sie stützt, selbst wenn das Argument schlecht ist. (S.59)

Nietzsche wehrte sich sein Leben lang gegen diese Form der Bequemlichkeit und schrieb bereits in jungen Jahren seiner Schwester:

„Willst du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche.“ (Zitiert nach S. 47)

Der Preis dafür ist Unbequemlichkeit, Arbeit, und leider bei uns allzu oft, wie auch bei Nietzsche, Ausgrenzung und Einsamkeit.

Sehr interessant fand ich auch den Abschnitt über Barbara McClintock. Hier geht es vor allem ums Zuhören und darum, Störungen und Abweichungen von der Regel ganz besonders willkommen zu heißen.

Die Biologen hofften … auf eine statische, leichter zu verstehende DNA. McClintocks Arbeit dagegen zeigte ein lebhaftes und unberechenbares System auf: nicht nur die DNA wirkte auf die Zelle ein, Elemente der Zelle könnten auch die DNA beeinflussen. Die Gene lagen nicht einfach ruhig und unverrückbar da, sondern konnten sich spontan von einer Seite zur nächsten bewegen, sogar von einem Chromosom zum nächsten, und dabei ständig neue Impulse mitbringen und die genetische Ordnung neu strukturieren. (S.83)

‚Hasty Generalizations‘ passieren immer dann, wenn man anhand begrenzter Erfahrungen eine Theorie oder ein Modell entwickelt. Man zieht dann Schlüsse, die nicht alle Variablen berücksichtigen, aber den Anspruch erheben, ein Phänomen in seiner Gesamtheit zu beschreiben. (S.87)

McClintocks Denkart könnte uns lehren, dass eine statistische Abweichung mindestens genauso viel Erkenntnisgewinn bringen kann wie statistische Genauigkeit. (S.90)

Für sie gab es überhaupt keine Abweichungen. Was wir uns als abnormales Verhalten eines Organismus vorstellen, war für sie ein Hinweis auf eine höhere und komplexere Ordnung, die einfach noch nicht verstanden wurde. (S.76)

Organisches Denken besitzt eine Qualität des Zuhörens. (S.78)

Zu guter Letzt sei hier noch der Teil um Hannah Arendt erwähnt. Hier steht natürlich der Appell an die Verantwortung der/des Einzelnen im Vordergrund und die Frage danach, was totalitäre Systeme möglich macht. Die „Banalität des Bösen“ verweist nämlich wieder auf Denkfaulheit, stellt deren Fatalität in einen gesellschaftlichen Kontext, namentlich in den Kontext von Holocaust und Totalitarismus.

Einer der hartnäckigsten kognitiven Fehler des menschlichen Gehirns ist der Glaube, dass eine Aussage oder eine Erfahrung, die sich immer wiederholt, wahr sein muss. In seinen Anfängen ist das fast schon lustig, man nennt es dann ‚Attentional Bias’… Der Effekt aber, der wohl am besten Arendts tiefste Sorge beschreibt, ist der ‚Bandwagon-‚ oder ‚Mitläufereffekt’… Je mehr Menschen eine bestimmte Sache tun oder glauben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch andere das tun werden. Sie würden auf die gleiche Weise handeln, egal, was sie selbst glauben oder welche eigenen Informationen sie haben, diese würden sie ignorieren oder sich darüber hinwegsetzen…(S.193)

Auf einer tieferen Ebene erkannt Arendt, dass der Totalitarismus ein anti-politischer Prozess ist, der dazu führt, dass alles Denken aufhört. Dies kann auch dann passieren, wenn Menschen ohne jeden Zwang von außen in einen Zustand der Gedankenlosigkeit verfallen und politischer Beteiligung aus dem Weg gehen. (S.184)

Weitere Kapitel befassen sich mit Sigmund Freud, Leonardo da Vinci, Sokrates, Charles Darwin, Jiddu Krishnamurti und Giordano Bruno.

Ich finde, dieses Buch verdient es, gelesen, verschenkt und weiterempfohlen zu werden: „Denken wie Einstein“ von Theresa Bäuerlein und Shai Tubali. Erschienen bereits 2015.

Außerdem hier noch der Link zu „Schnelles Denken – langsames Denken“ von Daniel Kahnemann, dessen Untersuchungen einiges von dem, was Theresa Bäuerlein und Shai Tubali zusammengetragen haben, durch aktuelle psychologische Forschung untermauern.

Beitrag ohne Titel (wie ein Roman ohne U)

Ich weiß leider wirklich nicht mehr, was mich dazu bewogen hat, dieses Buch zu lesen. Roman ohne U von Judith W. Taschler, erzählt eigentlich die Geschichte einer Frau, die zu früh und ungewollt schwanger wurde, dann aber doch mit dem Mann zusammen bleibt. Bis die sich nach vier Kindern die Frage stellt, ob es das schon gewesen sein soll. Parallel dazu entdeckt sie, die nebenbei als Biografin arbeitet, die Lebensgeschichte eines Mannes, der kurz nach dem zweiten Weltkrieg aufgrund eines dummer Jungen Streichs für zwei Jahrzehnte in russischen Strafgefangenenlagern landete. Und natürlich hängt am Ende alles irgendwie zusammen.

Überzeugt hat mich das Buch nicht. Die Charaktere bleiben sehr flach, teilweise richtig klischeehaft, und heterosexuelle Familiengeschichten sind ja eigentlich eh nicht mein Ding. Es war einfach, aber nicht wirklich schön zu lesen: so manche Geschichte aus den sibirischen Arbeitslagern im Uranabbau waren plastisch genug, um mir den ruhigen Schlaf zu rauben.

Für mich zugleich der einzige Punkt von Interesse. Auch in meiner Familie gab es den Opa, der nach dem Krieg in russischer Gefangenschaft war. Wir haben nie darüber geredet, auch nie nachgefragt. Irgendwo stand dahinter wohl auch der Gedanke, als Soldat des Nazi-Kriegs werde er es vielleicht verdient haben. (Ein Gedanke, für den ich mich im Nachhinein schäme. Fair – und mutiger – wäre gewesen, ihn zu fragen).

Aber wenn ich jetzt durch die Lektüre dieses Buches auch nur den Hauch einer Ahnung bekommen habe, was das Leben im russischen Gulag bedeutet hat, und zwar für jeden, egal, aus welchem Grund er oder sie dort hin geraten ist, wird mir einmal mehr bewusst, was für ein wahnsinniges Glück ich doch habe, so fern von Krieg und massiver, unentrinnbarer Gewalt leben zu dürfen. Und auf der anderen Seite: wie viel Grausamkeit es gibt auf der Welt. Gab und immer noch gibt.

Wo kommen nur überall auf der Welt immer wieder so viele – hauptsächlich Männer – her, die es braucht, um derartige Systeme von Grausamkeit und Erniedrigung und Tod aufrechtzuerhalten? 230.000 Menschen verrichteten über das Land verteilt zeitgleich den Dienst als Wachpersonal. Waren also – über den Grad der Freiwilligkeit müssten wir vielleicht noch streiten – Teil dieses brutalen Repressions- und Produktionsapparates.

Weil ich tatsächlich wenig über das System der Arbeit und Straflager in Russland wusste, habe ich etwas nachgelesen. Es gab sie schon lange, auch vor der Oktoberrevolution, und vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch allein in den Jahren danach waren bis in die 1950er Jahre hinein Millionen Menschen in diesen Arbeitslagern gefangen: Kriegsgefangene, politisch missliebige Personen und deren Angehörige, Schwerstkriminelle und wohl auch einige wegen kleinerer Vergehen oder zu Unrecht Verurteilte. Nach dem Tod Stalins ging es bis zum Ende der Sowjetunion in abgemilderter Form weiter. Insgesamt waren (laut Wikipedia) zwischen 28 und 32 Millionen Menschen von Verbannung und Inhaftierung in russischen Gulags betroffen.

Neben der Entfernung dieser Menschen aus den Augen der Gesellschaft hatten die Gulags immer auch wirtschaftliche Bedeutung: Durch die in ihnen – unter entwürdigenden und lebensfeindlichen Bedingungen – verrichtete Zwangsarbeit wurden in entlegenen Gebieten Bodenschätze und neue Siedlungsgebiete erschlossen, infrastrukturelle Großprojekte realisiert, wie Staudämme, Kraftwerke, und Eisenbahnstrecken. Der gesamte Uranabbau der Sowjetunion wurde, wie in dem Roman ohne U sehr plastisch geschildert, durch Gulag-Häftlinge erbracht, Grundlage für Atomkraftwerke und atomare Aufrüstung.

Ich würde an dieser Stelle gerne mal über das Thema Repression debattieren. Welche Strafen sind gerechtfertigt? Wollen oder müssen wir überhaupt strafen? Wer oder was gibt uns das Recht dazu? Und, falls ja, welche Art von Strafen halten wir für menschlich vertretbar? Ändert sich diese Einschätzung mit der Art der zu bestrafenden Tat?

Dürfen wir unmenschlich werden, wenn wir finden, dass andere es zuerst waren? Ich glaube nein. Du hast angefangen war noch nie ein gutes Argument dafür, jemand anderem Schlimmes anzutun.

Oder was denkt ihr?

Wüstenfeuer und Gefährliche Vergangenheit – Neue LGBTI-Krimis

Nach so viel harter Kost hätte ich jetzt gerne mal was Leichtverdauliches gelesen. Einen Krimi vielleicht, und er sollte in einer mir etwas verwandteren Welt spielen…. Mal schauen, ob unter den Neuerscheinungen bei den einschlägigen Verlagen was dabei ist…. Ha – im Querverlag ein neuer Krimi von Ria Klug – queeres, lesbisches und linkes Personal, das könnte passen! Und Krug und Schadenberg, die dieses Jahr ihr 25-jähriges Jubiläum als Verlag für lesbische Literatur feiern, haben einen neuen Krimi von Katherine Forrest herausgebracht: Wüstenfeuer. Vorweg soviel: Beide Krimis habe ich im Urlaub verschlungen – aber es ist mir nicht in beiden Fällen gut bekommen.

Katherine Forrest erzählt an Hand ihrer Ermittlerin vom Älterwerden, von Abschieden, vom Wert alter Lieben und Freundschaften, und davon, dass es nie zu spät ist, mit alten, schädlichen Gewohnheiten zu brechen, um sich selbst und anderen ein Stück näher zu kommen. Das alles, während die Suche nach ihrem plötzlich verschwundenen Ex-Kollegen unaufhaltsam auf einen nervenzerreissenden Showdown zusteuert. Ein toller Krimi, in dem lesbische Lebenswirklichkeit selbstverständlich ist. Endlich einmal kein Problem, sondern einfach Teil der Geschichte. Zusammen mit den oben genannten Themen macht ihn genau das für mich unbedingt empfehlenswert. Irgendwie eine runde Sache:

Katherine Forrest: Wüstenfeuer. Krug und Schadenberg, 2018.

Ria Klugs „Gefährliche Vergangenheit“ dagegen hat in mir eher einen wirren und unbefriedigenden Eindruck hinterlassen. Der Thriller ist in einer extremen Nischenwirklichkeit angesiedelt, nämlich den Überbleibseln der militanten Linken (Ex-RAF und Umfeld) in Berlin. Geschildert wird eine Atmosphäre, in der Geldsorgen, Misstrauen und Verrat an der Tagesordnung sind, politisch engagiert ist eigentlich niemand mehr (???). Die Konfliktlinien verlaufen zwischen dem Protagonisten Riva, der früher als Frau bei den italienischen Roten Brigaden war, und dessen unsympathischem Ex-Genossen Sandro, vor dem er auf der Flucht ist. Daneben konkurrieren noch diverse miese Charaktere aus der Szene um ein vermutetes Gelddepot aus den 1980er Jahren, von dessen Entdeckung sie sich die Lösung ihrer Probleme versprechen. Wenn man es genau nehmen will: ziemlich klischeehaft und ein bißchen an den Haaren herbeigezogen. Aber okay. Was mich dabei bei der Stange gehalten hat, war einerseits die Frage, was es wohl mit der plötzlich aus dem Nichts auftauchenden blonden Retterin auf sich hat. Und andererseits die Hoffnung, dass die Wahl des Settings sich als absichtsvoll erweisen würde. Diese Hoffnung, und das ist mein Hauptkritikpunkt an diesem Buch, wurde leider vollends enttäuscht. Eine solche Absicht hätte sein können, historische oder aktuelle Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen und neu zu beleuchten. Ein Vorbild hierfür ist Wolfgang Schorlau, der jeden seiner Krimis mit ausführlichen Recherchenachweisen und Links unterfüttert (siehe zb seine Materialien zu „Das München Komplott“). Aber vielleicht habe ich ja etwas übersehen? Wer sich selber ein Bild machen will:

Ria Klug: Gefährliche Vergangenheit. Querverlag, 2018.

Hinschauen

Hinschauen, ganz genau hinschauen, ganz genau und gerade da, wo es weh tut. Wo es einer den Magen umdreht. Darum geht es in „Wer dann noch lachen kann“ von Birgit Vanderbeke.

Ich habe dieses Buch auf einem Bücherflohmarkt gefunden und wusste gleich: kein Gute-Laune-Buch, aber sicherlich gut. Als ich mich endlich aufgerafft habe, es zu lesen, entpuppte es sich als Page-Turner – mit Tiefenwirkung.

Sprachlich leicht und zugleich präzise, inhaltlich persönlich und zugleich politisch, erzählt Birgit Vanderbeke von häuslicher Gewalt – auch wenn das Mädchen, das sie erleidet, dies für ein vergleichsweise „kleines Pech“ hält im Vergleich zu Kriegen, Hunger und Vertreibung/Flucht.

Doch alle Geschichten von Gewalt und Krieg müssen erzählt werden. Sie werden erzählt, so oder so, zuerst durch den Körper, und wenn man Glück hat und eine/n, die/der zuhört, auch mit Worten.

Birgit Vanderbekes Mädchen hat dieses Glück, zunächst in Form ihrer eigenen Stimme aus der Zukunft (dem Beweis, das sie überleben wird, was ihr gerade widerfährt), und später in Gestalt des „Mikrochinesen“. Was es mit dem auf sich hat, müsst ihr schon selber lesen. Ich finde, es lohnt sich!

Gewalt gegen Kinder in Deutschland nimmt laut Kriminalstatistik eher zu als ab. 2017 sind in Deutschland 143 Kinder zu Tode geprügelt worden. Der Polizei wurden allein 2017 über 4000 Fälle von schweren Misshandlungen und über 13000 Fälle von sexueller Gewalt bekannt. Die vermutete Dunkelziffer ist riesig. Die Täter/innen sind in den meisten Fällen die eigenen Eltern oder nahe Verwandte. Im Internet gibt es mehr als 80000 Seiten mit Abbildungen von Gewalt gegen Kinder. (Quelle: Tagesschau). Auch hier gilt: nicht weg-, sondern hinschauen – und eingreifen. Das hat Birgit Vanderbeke mit diesem starken Buch noch einmal ganz deutlich gemacht, Handlungsanleitungen inklusive.

Lern doch erstmal Deutsch, bevor du Frauen vergewaltigst.

Heute Abend am Baggersee. Ich allein auf der Suche nach Erfrischung und Feierabendentspannung. Und wie ich da so sitze, nackt in einer kleinen Bucht, und den Fröschen beim Quaken zusehe, kommt plötzlich aus dem Wasser etwas angeröchelt. Es handelt sich um einen Mann. Keinen ertrinkenden, wie die Geräusche, die er von sich gibt, zunächst glauben machen könnten (wenn eine mal nicht gleich misstrauisch sein will), sondern einen wichsenden. Der mich unverhohlen anstarrt und Anstalten macht, genau vor mir anzulanden (wo er nicht herkam, denn seine Sachen liegen hier nicht). Ich empfinde das als Angriff. Stehe auf, wickel mir mein Tuch um und raffe geschwind mein Zeugs zusammen, diese Bucht ist mir eindeutig zu abgelegen um allein mit ihm sein zu wollen. Schon ist er direkt vor mir. Ich so:“Verpiss dich!“ Und gleichzeitig drei Schritte auf den Weg, der hier vorbeiführt. Da sind noch Leute, gerade am Gehen. Der Typ bleibt stehen, und ich gehe los, auf dem Weg in Richtung menschlicher Stimmen.

Die Stimmen kommen von Leuten, die immer hier sind. Seit 30 Jahren, wie ich später erfahren werde. Ich sage ihnen, dass ich ihr Nähe suche, weil da “so ein komischer Typ“ ist. Sie wissen sofort, wenn ich meine. Und dann geht es los: Ja, “der schleicht hier schon seit zwei Tagen rum“, “der gehört nicht hierher“, und dann: “ein Polacke, der soll erstmal Deutsch lernen“…

Ich bin sprachlos. Einerseits total froh, weil ich mich jetzt sicherer fühle, andererseits kein Bock, Anlass für fremdenfeindliches Sprücheklopfen zu sein.

Ein bisschen versuche ich dann doch noch, diese Leute mal dran zu erinnern, dass auch sie fast überall fremd sind und “nicht hingehören“, und dass das eine (fremd sein) nicht ursächlich mit dem anderen (Frauen belästigen) zu tun hat.

Im Nachhinein kommt es mir aber doch ein bisschen absurd vor, mit Leuten diskutieren zu müssen, die in so einer Situation meinen, der Mann müsse erstmal Deutsch lernen!

*Ganz großes Kopfschütteln*

Eine lesbische Liebesgeschichte aus dem Iran

Lieben dürfen, wen ich will. Leben dürfen, mit wem ich will. Wen kann das – und aus welchen Gründen – stören? Leider genügt es nicht, einfach den Kopf zu schütteln über dererlei Meinungsterrorismus. Denn oft genug ist er gepaart mit Macht – kultureller, politischer und im schlimmsten Fall staatlicher Macht. So zum Beispiel im Iran, wo (Stand heute) Menschen aufgrund ihrer gleichgeschlechtlichen Liebe getötet werden.

Deborah Ellis, eine kanadische Psychotherapeutin, die mit Geflüchteten arbeitet, hat in ihrem Buch „Wenn der Mond am Himmel steht, denk ich an dich“ die reale Geschichte einer jungen iranischen Frau zu einem, aus verschiedenen Gründen lesenswerten, Roman verdichtet. Zum einen ist da natürlich der seltene Einblick in Alltagswelten des heutigen Iran. (Einen Kommentar zu einem aktuellen, auch von einer Frau geschriebenen Sachbuch zu diesem Thema, findet ihr unten – das konnte ich mir in diesem Zusammenhang einfach nicht verkneifen.) Zum anderen ist die Erzählung von Deborah Ellis aber auch geprägt von großer Zartheit und der Poesie einer ersten Liebe, die sich gegen alle Widerstände ihren Weg bahnt. Trotz der thematisch wirklich schweren Kost habe ich das Buch gerne und in einem Rutsch durchgelesen, wie schon lange keine lesbische coming-out-Geschichte mehr. Jugendlichen wie Erwachsenen kann ich es uneingeschränkt empfehlen!

Ein guter Anlaufpunkt, um sich über die Lage/Verfolgung von lesbischen, schwulen, und transsexuellen Menschen zu informieren ist die Länderseite von Queeramnesty.

(Als aktuelles, 2017 erschienenes Sachbuch zum Alltag im heutigen Iran, das vor allem gegen die hier – in den deutschsprachigen Ländern?- verbreiteten Klischees angehen und „moderne“ Tendenzen aufzeigen will, lief mir „Der neue Iran“ von Charlotte Wiedemann über den Weg.ü Leider bin ich bisher nur dazu gekommen, mal hineinzuschnuppern. Eine Suche nach dem Begriff Homosexualität ergab 0 Treffer, einen Treffer gab es für homosexuell im Zusammenhang mit einem anscheinend bekannten Schwulentreff in einem öffentlichen Park in Teheran. Ich schließe daraus, dass die Autorin vermutlich keine Betroffene, also Lesbe, ist und auf diesem Auge eher blind. Das wiederum stellt dann für mich auch ein wenig die Glaubwürdigkeit ihrer Einschätzung zu anderen Diskriminierungsthemen in Frage, zb was den Antisemitismus im Iran angeht. Obwohl das Buch von deutschen Kulturleitmedien wie Deutschlandfunk, Zeit und FAZ positiv aufgenommen wurde, würde ich es daher bei allem Interesse zumindest mit kritischem Blick lesen. Wenn ich eines Tages dazu komme…)

Beide hier erwähnten Bücher gibt es übrigens in der Onleihe oder im Buchladen eures Vertrauens!

DEBORAH ELLIS

Wenn der Mond am Himmel steht, denk ich an dich

Übersetzt von Edith Beleites

Ab 13 Jahren

Taschenbuch, Broschur, 256 Seiten

Intelligente, frauenbezogene Heldinnen. Zoe Beck liefert.

Intelligente, frauenbezogene Heldinnen. Dass diese Kombination immer noch eine Ausnahme im Krimi-Sortiment und auf den Bestenlisten ist, fällt umso mehr auf, wenn eine*r einmal ein Positivbeispiel begegnet, wie bei Zoe Beck’s “Die Lieferantin“.

In diesem Roman kämpft ein von Frauen geführtes Netzwerk gegen patriarchal organisierte Drogenbosse. Und gegen eine korrupte Regierung, die durch ihre Drogenpolitik der Mafia ein Geschäftsmodell erlaubt, das keine Leichen scheut.

Der Plot ist jenseits von Legalität angesiedelt, in einer Welt, in der der Staat und seine Gesetze nurmehr den Falschen dienen. Faschistoide weiße Schlägertrupps bedrohen Andersdenkende und Andersaussehende,. Wer kann, dröhnt sich zu. Es geht nicht um die Aufklärung von Verbrechen, sondern darum, Schlimmeres zu verhindern. Und dennoch. Es gibt Menschen, und in diesem Buch sind es ausnahmslos Frauen, denen das Schicksal anderer nicht scheißegal ist. Die anderen helfen, sich politisch engagieren oder im Verborgenen dafür sorgen, dass Suchtkranke zumindest reinen Stoff erhalten.

„Die Lieferantin“ ist – schnörkellos geschrieben und erzählt – ein Page Turner, der subversiv nachwirkt. Kruden gesellschaftlichen Verhältnissen wird, vermittelt durch einen Krimiplot, eine Vision entgegengesetzt. Die Vision, dass es immer eine Alternative gibt zum Wegschauen und Stillhalten.

Wie das Ganze ausgeht, müsst ihr selber lesen.

Ich wünsche mir mehr Bücher wie dieses!

Weitere Infos zum Buch und zur Autorin auf den Verlagsseiten.

Es ist genug für alle da!

Ein bißchen Nachlesen über den damals sogenannten „Brotkorb der Welt“ (angeregt durch die Lektüre von „Am Roten Fluss“ ) hat mich dazu bewegt, mich mal wieder mit der Frage zu befassen, woher eigentlich global gesehen in den nächsten Jahrzehnten unser Essen kommen könnte. Dabei bin ich auf ein paar interessante Fakten gestoßen.

Seit 1948 ist die Menge in der US-Landwirtschaft eingesetzter Produktionsfaktoren (Arbeit, Land, Kapital) praktisch unverändert geblieben, während der Ausstoss der Farmen sich fast verdreifacht hat….

(Quelle: NZZ)

Wissenschaft und Technik tragen maßgeblich dazu bei, die Produktivität kontinuierlich zu steigern – und dazu braucht es nicht nur Chemie.

Im Laufe der Zeit haben sich entsprechend die Beiträge an die Produktivität gewandelt. Waren ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Mechanisierung und Chemikalien entscheidend, ist von 1980 bis 2009 der Maschinenpark geschrumpft, der Einsatz von Land und Arbeitskräften zurückgegangen, und der Einsatz von Chemikalien hat sich verlangsamt. Trotzdem nahm die Produktion in dieser Zeit um jährlich 1,5% zu….

In den vergangenen drei Jahrzehnten hat zudem eine richtiggehende Revolution stattgefunden, was das wissenschaftliche Verständnis lebender Organismen und die Datenverarbeitung betrifft. Saatgut wird zunehmend wetter- und krankheitsresistent, Traktoren werden von Satelliten gesteuert und düngen und säen auf den Zentimeter genau, Bodensonden melden, wann wo wie viel bewässert werden muss…

(Quelle: NZZ)

Und wenn AgrarwissenschaftlerInnen heute auch besser denn je wissen, was im Sinne von Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung bei alledem zu beachten wäre  (zb laut dieser Studie): Was könnte die Menschheit dann noch daran hindern, genug zu essen für alle zu produzieren?

Die Welternährungsorganisation FAO hat 2015 einen Plan (Path to Zero Hunger by 2030) aufgestellt, der das Ziel hat, bis 2030 den Hunger in der Welt abzuschaffen. Bis dahin wird es voraussichtlich über 8 Milliarden Menschen geben. Immer mehr Menschen, und trotzdem könnte genug für alle da sein.

Zu den wichtigsten Maßnahmen, die zur Abschaffung des Hungers auf der Welt führen, gehören allerdings zwei Dinge: auf der einen Seite eine Steigerung der Produktivität (check), auf der anderen Seite eine Verbesserung des Zugangs zu Nahrungsmitteln für alle – und hier liegt das Problem.

Das Perverse ist, dass über die Jahrzehnte trotz wachsender Produktivität für die Masse der Menschen kein besseres Leben herausgesprungen ist. Dass das Wissen und das Können der Menschheit nicht so eingesetzt werden, dass der Hunger ausgerottet wird (und nicht die Tiere).

Hier in den Metropolen wird uns weisgemacht, dass Reallöhne und Renten sinken, weil wir mehr werden (mehr Kranke, mehr Alte, mehr Arbeitslose). In der Peripherie leiden weiterhin Millionen an Hunger und Armut. Und das, obwohl wir mit immer weniger Aufwand und Ressourcen immer mehr produzieren. Die Früchte dieser Entwicklung kommen aber bislang nur einigen Wenigen zu Gute, ganz nach dem Motto: Nur wer hat, der kriegt.

Ein paar Schritte dahin, dies zu ändern, stehen auch im Plan der FAO, wer beobachten möchte, was sich in diesem Zusammenhang tut, kann neue Entwicklungen auf http://www.agrardebatte.de verfolgen.

Und immer, wenn jemand mit dem Argument, irgendetwas würde nicht reichen, andere ausgrenzen will, sollten wir uns diese Fakten mal wieder vor Augen halten.

 

Rückkehr nach Reims … gespielt in Deutschland

Nach der Premiere von “Rückkehr nach Reims“ an der Berliner Schaubühne stehe ich vor einer Menge Fragen.  In dem hier als Aufhänger benutzen Buch des französischen Soziologen Didier Eribon ( hier zur Verlagsinfo) geht es um die Auseinandersetzung eines homosexuellen Intellektuellen mit seiner proletarischen Herkunft und um die Frage, warum rechte Bewegungen heute in solchen Milieus starken Zulauf genießen. Auf der Bühne stellt Hauptdarstellerin Nina Hoss dem den Lebenslauf ihres Vaters gegenüber, früher Kommunist, Gewerkschafter und Gründungsmitglied der Grünen. Diese Entscheidung finde ich eher irritierend als erhellend.

Fragen an Didier Eribon – oder an mich.

Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von einer neuen intellektuellen Avantgarde träumen, davon, der Klasse der Ausgeschlossenen (ArbeiterInnen?) eine neue Führung anbieten zu können? 

Würde sich darin nicht genau jene soziale Gewalt fortsetzen, deren Auswirkungen sie gerade erst (für sich) entdeckt haben?

Haben Sie Ihren intellektuellen und persönlichen Einsatz für dieses Buch auf der Bühne wiedergesehen? 

Fragen an Nina Hoss – oder an Thomas Ostermeier – oder an mich.

Wo genau liegt die Bedeutung der Lebensführung Ihres Vaters im Vergleich mit der von Herrn Eribon Senior? Hätte das deutlicher herausgearbeitet werden können?

Respekt vor der gezeigten Integrität Ihres Vaters, aber: Warum konnte es nicht ein französischer Gegenentwurf sein?

Warum überhaupt ein individueller Ausnahme-Lebenslauf gegen eine soziologische Analyse? 

Sind Sie nicht einfach saufroh, dass Sie es mit Ihrem Vater und Ihrer Beziehung zu ihm offensichtlich viel einfacher hatten als Herr Eribon? Warum nicht Danke sagen zum Schicksal und sich trotzdem mit den eingebrachten Fragen intellektuell auseinandersetzen?

Fragen an Thomas Ostermeier – oder an mich.

Haben die Deutschen die besseren Geschichten von Arbeiterkampf?

Warum endet die Diskussion zweier Kulturschaffender mit einem weißen deutschen Heilsbringer am Amazonas?

Warum fehlt der Mut, mehr Klarheit in den Köpfen zu fordern? Oder sollte ich auf diesen Gedanken angesichts des zuweilen hilflosen Gestammels der Figuren auf der Bühne selbst kommen? Angeregt durch die einzige Figur, die sich noch auszudrücken wusste: den kiffenden, beinahe alleinerziehenden Rapper aus dem Studio?

Lob an die Bühnenbildnerin. Und das ganze Team vor und hinter den Kulissen. Eure Arbeit ist nicht umsonst, der Abend geht mir deutlich nach. Und zwar mit schönen und starken Bildern von der Aufführung vor unaufgeregt, aber bedeutungstragend und warm gestalteter Bühne. Und dafür ganz herzlich: danke.

Kein schönes Land zu dieser Zeit…

Heute haben wir es mal wieder vorgeführt bekommen. 

Es war – alle Jubeljahre mal-  wieder Wahl in Deutschland. In Anbetracht dessen, was Wahlen hierzulande meist nicht ändern, haben wir früher gesagt: nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.  Heute fürchteten wir angesichts wieder salonfähig gewordener rechtsradikaler Parolen, dass es noch schlimmer kommen könnte. Und wählten deshalb mit der Verzweiflung Ertrinkender die, die dem in den Parlamenten wenigstens noch ein kleines bißchen entgegensetzen können (so unsere Hoffnung). Auch wenn rein farblich zwischen rechts und links kaum ein Unterschied festzustellen war.

Nun hat aber auch das nix genützt.

Wie leben in einem Land, in dem selbst dann, wenn sich drei Viertel der Bevölkerung wieder für Wahlen mobilisieren lässt, über 13% entschieden chauvinistisch und antidemokratisch wählen. 64 % befürworten die Politik der letzten Jahrzehnte und Parteien, die Freiheit vor allem als Freiheit für deutsches Kapital und Unternehmertum verstehen und an der Abschaffung des sozialen  an der Marktwirtschaft des Kalten Kriegs fleißig mitgewirkt haben (ja, auch die SPD gehört zu dieser breiten Mehrheit).
Über die grünen 9% lässt sich allenfalls sagen, dass sie möglicher Weise zwar gerne bessere Menschen wären, aber bereit sind, die meisten ihrer Ideale für faule Kompromisse, mehr Kindergartenplätze und ein paar glückliche Hühner vor ihrer Haustür zu verkaufen. 
Vom Rest müssen zu hier letzt die abgezogen werden, die noch radikaler rechts gewählt haben als afd.

Maximal 15% also, die noch glauben, dass eine bessere Welt möglich und notwendig ist.

In so einem Land leben wir also. Echt jetzt. Kein Spaß