Beitrag ohne Titel (wie ein Roman ohne U)

Ich weiß leider wirklich nicht mehr, was mich dazu bewogen hat, dieses Buch zu lesen. Roman ohne U von Judith W. Taschler, erzählt eigentlich die Geschichte einer Frau, die zu früh und ungewollt schwanger wurde, dann aber doch mit dem Mann zusammen bleibt. Bis die sich nach vier Kindern die Frage stellt, ob es das schon gewesen sein soll. Parallel dazu entdeckt sie, die nebenbei als Biografin arbeitet, die Lebensgeschichte eines Mannes, der kurz nach dem zweiten Weltkrieg aufgrund eines dummer Jungen Streichs für zwei Jahrzehnte in russischen Strafgefangenenlagern landete. Und natürlich hängt am Ende alles irgendwie zusammen.

Überzeugt hat mich das Buch nicht. Die Charaktere bleiben sehr flach, teilweise richtig klischeehaft, und heterosexuelle Familiengeschichten sind ja eigentlich eh nicht mein Ding. Es war einfach, aber nicht wirklich schön zu lesen: so manche Geschichte aus den sibirischen Arbeitslagern im Uranabbau waren plastisch genug, um mir den ruhigen Schlaf zu rauben.

Für mich zugleich der einzige Punkt von Interesse. Auch in meiner Familie gab es den Opa, der nach dem Krieg in russischer Gefangenschaft war. Wir haben nie darüber geredet, auch nie nachgefragt. Irgendwo stand dahinter wohl auch der Gedanke, als Soldat des Nazi-Kriegs werde er es vielleicht verdient haben. (Ein Gedanke, für den ich mich im Nachhinein schäme. Fair – und mutiger – wäre gewesen, ihn zu fragen).

Aber wenn ich jetzt durch die Lektüre dieses Buches auch nur den Hauch einer Ahnung bekommen habe, was das Leben im russischen Gulag bedeutet hat, und zwar für jeden, egal, aus welchem Grund er oder sie dort hin geraten ist, wird mir einmal mehr bewusst, was für ein wahnsinniges Glück ich doch habe, so fern von Krieg und massiver, unentrinnbarer Gewalt leben zu dürfen. Und auf der anderen Seite: wie viel Grausamkeit es gibt auf der Welt. Gab und immer noch gibt.

Wo kommen nur überall auf der Welt immer wieder so viele – hauptsächlich Männer – her, die es braucht, um derartige Systeme von Grausamkeit und Erniedrigung und Tod aufrechtzuerhalten? 230.000 Menschen verrichteten über das Land verteilt zeitgleich den Dienst als Wachpersonal. Waren also – über den Grad der Freiwilligkeit müssten wir vielleicht noch streiten – Teil dieses brutalen Repressions- und Produktionsapparates.

Weil ich tatsächlich wenig über das System der Arbeit und Straflager in Russland wusste, habe ich etwas nachgelesen. Es gab sie schon lange, auch vor der Oktoberrevolution, und vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch allein in den Jahren danach waren bis in die 1950er Jahre hinein Millionen Menschen in diesen Arbeitslagern gefangen: Kriegsgefangene, politisch missliebige Personen und deren Angehörige, Schwerstkriminelle und wohl auch einige wegen kleinerer Vergehen oder zu Unrecht Verurteilte. Nach dem Tod Stalins ging es bis zum Ende der Sowjetunion in abgemilderter Form weiter. Insgesamt waren (laut Wikipedia) zwischen 28 und 32 Millionen Menschen von Verbannung und Inhaftierung in russischen Gulags betroffen.

Neben der Entfernung dieser Menschen aus den Augen der Gesellschaft hatten die Gulags immer auch wirtschaftliche Bedeutung: Durch die in ihnen – unter entwürdigenden und lebensfeindlichen Bedingungen – verrichtete Zwangsarbeit wurden in entlegenen Gebieten Bodenschätze und neue Siedlungsgebiete erschlossen, infrastrukturelle Großprojekte realisiert, wie Staudämme, Kraftwerke, und Eisenbahnstrecken. Der gesamte Uranabbau der Sowjetunion wurde, wie in dem Roman ohne U sehr plastisch geschildert, durch Gulag-Häftlinge erbracht, Grundlage für Atomkraftwerke und atomare Aufrüstung.

Ich würde an dieser Stelle gerne mal über das Thema Repression debattieren. Welche Strafen sind gerechtfertigt? Wollen oder müssen wir überhaupt strafen? Wer oder was gibt uns das Recht dazu? Und, falls ja, welche Art von Strafen halten wir für menschlich vertretbar? Ändert sich diese Einschätzung mit der Art der zu bestrafenden Tat?

Dürfen wir unmenschlich werden, wenn wir finden, dass andere es zuerst waren? Ich glaube nein. Du hast angefangen war noch nie ein gutes Argument dafür, jemand anderem Schlimmes anzutun.

Oder was denkt ihr?

0 Gedanken zu „Beitrag ohne Titel (wie ein Roman ohne U)

  • So hat das Buch indirekt gewirkt, danke für das Ausleuchten und die Hintergrundinformationen, das Ausmaß habe ich mir nie bewusst gemacht, dass in den „ehemaligen Sowjetrepubliken“ so viele Millionen Menschen von Verbannung, Repression, Arbeitslagern betroffen waren. Gruselig. Und angesichts der wirtschaftlich profitablen Ausbeutung der Arbeitskraft auch sehr zynisch.

    „Schuld und Sühne“ – mein Bruder hat immer versucht, mir Dostojewski nahezubringen – und Schuld und Sühne habe ich tatsächlich gelesen. Fiel mir jetzt spontan irgendwie ein.

    Spannende Fragen Du stellst.

  • Danke! Ich hoffe, die Infos, die ich mir da mal relativ schnell zusammengesucht habe, sind auch halbwegs verlässlich. Die Fragen, die das aufwirft, sind aber unabhängig davon relevant. Ich bin jedenfalls spontan froh, dass ich keine Richterin bin. Andererseits: sich dahinter verstecken, dass andere diese Arbeit tun, geht auch nicht mit meiner Vorstellung von gesellschaftlicher Verantwortung zusammen. Also muss eine*r hier wohl auch irgendwie eine Haltung gewinnen…

  • dazu fällt mir ein das Buch von Didier Fassin ein:
    Der Wille zum Strafen:

    „Die dunkle Seite der gegenwärtigen Gesellschaften
    In den letzten Jahrzehnten lässt sich ein härteres Durchgreifen der Polizei, eine Verschärfung des Strafrechts und ein teils massiver Anstieg der Gefangenenzahle in allen liberalen Demokratien beobachten. Ein neuer Wille zum Strafen greift um sich, wie Didier Fassin in seinem brisanten Buch nachweist.“
    https://www.suhrkamp.de/buecher/der_wille_zum_strafen-didier_fassin_58726.html
    muss aber noch erstmal lesen;-)
    Sasa

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