Verstehen als Beziehungsarbeit

Unser Umgang mit einer neuen Krankheit, die sich pandemisch verbreitet, ist nicht anders als unser Umgang mit anderen ökologischen und ökonomischen Krisensituationen der letzten Jahrzehnte. Der bislang allerdings noch nirgends zu einer fundamentalen Wende geführt hat. Was fehlt?

Ich hatte ja von einiger Zeit schon versprochen, mal meine Arbeit „Erkenntnis als Kollateralschaden von Beziehungen“ hier hochzuladen. Gehindert hat mich daran bisher vor allem, dass ich nicht wusste, wie ich eine Verbindung herstellen könnte zu den Themen, die mich aktuell beschäftigen – und die eben auch mit Corona zusammenhängen.

So langsam allerdings dämmert mir etwas: Es sind im Kern dieselben Haltungen, die den Diskurs prägen, die mich immer wieder auf dieselbe Art verstören und die ich zunehmend für komplett untauglich halte. Sogar für desaströs. Ich meine einerseits die Vorstellung von objekthaften Wahrheiten (für die also keine Verantwortung zu übernehmen ist), und andererseits die Vorstellung von individueller Freiheit.

In „Erkenntnis als Kollateralschaden von Beziehungen“, einem Text der in Theoretischer Philosophie an der TU Darmstadt entstanden ist, geht es vorrangig um den ersten Bereich. Genauer gesagt um aktuelle Arbeiten feministischer Philosophinnen zur Frage nach der Beziehung zwischen uns und der Welt, und inwiefern die Art dieser Beziehung bereits vorgibt, was wir überhaupt für Erkenntnisse gewinnen können. Ihr werdet dort auch Vinciane Despret wiederfinden. Beispiele kommen aus der Genetik, der Verhaltensforschung und der Anthropologie.

Hier könnt ihr den Text lesen und runterladen: „Erkenntnis als Kollateralnutzen des Zusammenlebens“.

Auf vielleicht noch fatalere Art wird der öffentliche Diskurs immer wieder von einer Vorstellung individueller Freiheit geprägt, die es aus feministischer, ökologischer und sozialer Sicht hart zu kritisieren gilt. Hierzu entdecke ich gerade Wendy Brown, Politikwissenschaftlerin aus den USA (und außerdem Lebensgefährtin von Judith Butler, die hierzulande wohl bekannter ist). Eine ihrer Kernthesen ist, dass „individuelle Freiheit“ ein genuin neoliberales Konzept ist, das zudem unauflösbar mit Maskulinismus, Dominanz und Unterwerfung verbunden ist. Mehr dazu demnächst in diesem Blog!

Die richtigen Fragen stellen

Ein kurzweiliges und aufschlussreiches Buch über Verhaltensforschung an Tieren, von dem wir viel über Kommunikation und unseren Zugang zur Welt lernen können: Vinciane Desprets „Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen?“.

Despret betreibt quasi Verhaltensforschung an Verhaltensforscher*innen und kommt zu dem Schluss, dass Tierversuche seit Konrad Lorenz häufig faktisch Verblödungsstrategien sind, weil den Tieren von vorne herein die Möglichkeit abgesprochen (und im grausamsten Fall genommen) wird, aus einem eigenen Wollen heraus zu handeln. So jedoch, belegt sie an ungezählten Beispielen, können wir eigentlich nie etwas substantiell Neues erfahren, sondern erhalten immer nur Bestätigungen für das, was wir an Vorurteilen schon mitbrachten. Ist das schlau?

Um einen kleinen Eindruck vom zu erwartenden Lektürespaß zu vermitteln, hier ein paar Kostproben. Das Buch enthält über 20 verschiedene Texte, die unabhängig voneinander gelesen werden können und Fragen stellen wie: Schließen Tiere Kompromisse?Sollte Betrug ein Beweis für richtiges Verhalten sein? Ist das, was Vögel machen, Kunst? Oder: Haben Pinguine ein coming out?

Unter dem Titel Können Tiere aufbegehren? zum Beispiel lesen wir die Geschichte von den Scheiße werfenden Affen. Aufmerksamen Wissenschaftlern war nämlich nicht entgangen, dass sich die Schimpansen, wenn sie ihnen zum ersten Mal gegenübertraten, der unerfreulichen Angewohnheit hingaben, sie mit Kot zu bewerfen. Jedoch, so schreibt Despret, bereitete diese Gewohnheit dieser Wissenschaft tatsächlich „den Königsweg zum Wissen“ und führte nach 20 Jahren gewissenhafter Beobachtung und Dokumentation zu einer bahnbrechenden Erkenntnis: Schimpansen sind bei dieser Tätigkeit in der Mehrzahl Rechtshänder. Was vielleicht eine bessere Forschungsfrage gewesen wäre, stand ja bereits im Titel.

Ich mochte diese Geschichte genauso wie die weniger plakativen. Es gibt traurige darunter, wie die von dem verwaisten kleinen Äffchen, dass beinahe gestorben wäre, weil die Anwesenden Menschen nicht auf die Idee kamen, dass ihm körperliche Nähe fehlen könnte. Es gibt grausame Geschichten, die zeigen, wie weit manche Menschen zu gehen bereit sind, um ihre eigenen Vorurteile bestätigt zu sehen, wie die von den Ratten im Labyrinth. Und daneben stehen zahlreiche Geschichten, die einfach nur zum Staunen und immer wieder auch zum Freuen sind.

Am Ende bleibt vielleicht die Erkenntnis, wie sehr das, was wir sehen, davon beeinflusst ist, was wir unserem Gegenüber zutrauen. Je enger das gefasst ist, desto dümmer bleiben wir.

Despret, Vinciane (2019): Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? Münster: Unrast. https://www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/was-wuerden-tiere-sagen-wuerden-wir-ihnen-die-richtigen-fragen-stellen-detail

Unter anderem dieses Buch hat übrigens eine philosophische Arbeit inspiriert, die ich unlängst geschrieben habe: Erkenntnis als Kollateralnutzen von Beziehungen. Ich werde sie euch demnächst hier vorstellen.

Stay tuned – und abonniert meine Beiträge über das Formular auf der Seite!

Karottensuppe!

OT: Ende des Selbstversuchs. Erkältung und Durchfall habe ich fürs erste selbst kuriert. Und das hat mir geholfen:

Gegen Beschwerden beim Atmen, Druck auf der Brust: Zirbenschnaps und Thymian-Eukalyptus-Salbe. Oft lüften und dabei vorsichtig bewegen, am besten so, dass die gesamte Atemhilfsmuskulatur dabei angesprochen wird. Eine passende Übung wäre zum Beispiel das Lungen-Qigong, gefunden bei Sasa Krauter.

Gegen Fieber: Holunder- und Lindenblüten im Tee. Und sowieso: viel viel Tee trinken. Mindestens zwei Liter am Tag, besser drei!

Gegen Durchfall – und das brachte dann auch erst den richtigen Durchbruch in Richtung Gesundwerden: die Morosche Karottensuppe! Es handelt sich, wie bei Wikipedia nachzulesen ist, dabei um ein mehr als hundert Jahre altes Rezept aus der Kinderheilkunde, das über moderne pharmazeutische Produkte bei den meisten aus dem Blick geraten ist. Zum Glück habe ich eine Freundin, die mir davon erzählte. Einmal gekocht, in mehreren kleinen Portionen über den Tag verteilt gegessen, und schon am selben Abend habe ich mich wieder viel wohler gefühlt in meinem Körper. Wirklich: wer es nicht kennt, und unter Durchfall leidet, sollte die Morosche Karottensuppe unbedingt ausprobieren! (Schaden kann es nicht). Und ein gesunder Darm ist, wie sich herumgesprochen haben sollte, auch eine wichtige Voraussetzung für ein funktionierendes Immunsystem.

Gegen Halskratzen und Reizhusten: Spitzwegerich-Tee. Im Moment wächst er ja überall auf den Wiesen und an Wegrändern, ich hatte aber auch noch getrocknete Blätter. Zur Abwechslung geht auch mal Kamille, die ist auch schön weich im Abgang.

Zur Desinfektion im Rachen und im ganzen Körper: Thymian geht immer, gerne auch mal mit einem Löffelchen Honig. Salbei ist auch super, passt aber nicht so gut mit eher schweißtreibenden Kräutern wie Holunder- oder Lindenblüten zusammen. Kamille – soll auch gut sein, kam mir jetzt aber dafür fast ein bissel schwach vor.

Zur allgemeinen Stärkung: Weißdorntee. Der eigentlich vor allem als Herzfreund bekannte Weißdorn hat mir schon oft geholfen, nach Krankheiten wieder auf die Beine zu kommen. Ebenfalls kräftigend wirkt Rosmarin. Beide Tees sind noch dazu superlecker! Und dazu darf eigentlich ein Bananenbrot nicht fehlen – mein Lieblingsrezept dafür verlinke ich hier.

Unterstützend für die Leber und damit auch eine Hilfe fürs Immunsystem habe ich zum Schluss auch noch 3 mal täglich 15 Tropfen Mariendisteltinktur eingenommen. Die Mariendistel ist nicht nur eine wunderschöne Pflanze, sondern auch das einzige (!) Mittel, das Menschen nach versehentlichem Verzehr eines Knollenblätterpilzes retten kann. Auch wenn – wie bei vielen Heilpflanzen – ihre genauen Wirkmechanismen noch gar nicht erkannt worden sind, könnte es also mehr als meine persönliche Einbildung sein wenn ich glaube, dass sie mir auch jetzt geholfen hat.

Gegen Schnupfen ist mir allerdings nur eins eingefallen: Nase putzen… Wie das geht, ist ja derzeit überall zu lesen…. Glücklich, wer genug und zarte Taschentücher zur Hand hat!

Ich hoffe, wer es braucht, findet hier den einen oder anderen hilfreichen Rat. Und für mich bin ich sehr froh, mich demnächst auch wieder mit anderen Themen befassen zu können.

Habt ihr auch noch Tipps zur Selbstmedikation in diesen Zeiten? Dann hinterlasst doch gerne Kommentare!

Ansonsten: bleibt gesund – oder werdet es schnell wieder!

UnFAIRe Bürgerwissenschaften

Unter dem Label „Bürgerwissenschaften“ oder “Citizen Science” werden derzeit Menschen wie du und ich zum Datensammeln animiert. Was dahinter steckt, was daran gar nicht FAIR ist, und was Daten- von Pilzsammler*innen lernen könnten, darüber schreibe ich in diesem Artikel.

Mykologie – Pilzkunde – war schon immer “Citizen Science”, zumindest, wenn wir den Begriff “Citizen” hier nicht überstrapazieren wollen. Menschen haben hier und in vielen anderen Teilen der Welt schon immer Pilze gesucht und gesammelt. Pilze werden und wurden gegessen, zu Heilzwecken oder in spirituellen Zeremonien verwendet. Manche sind essbar, andere giftig, manche helfen beim Bierbrauen oder Backen, andere beim Feuermachen.

Um für die gewünschten Zwecke den jeweils richtigen Pilz zu finden, ist es wichtig, einiges über Pilze zu lernen: wie sie aussehen, in welchen winzigen Details sich die einen von den anderen unterscheiden, wann und wo sie auftauchen, wann und wo es keinen Sinn macht, sie zu suchen und vieles mehr. Menschen, die solches Wissen erworben hatten, gab es lange bevor die akademischen Wissenschaften auf den Plan traten, wo die Welt der Pilze bis ins 18. Jahrhundert ein Randgruppendasein im Schatten der Botanik fristete.

Später wurde den Pilzen, zu denen auch Hefen und Schleime gehören, ihr eigenes taxonomisches Königreich gegeben – denn nach geltenden Definitionen sind sie weder Tier noch Pflanze. Tiere bewegen sich selbständig, Pilze breiten sich aus: der größte und älteste lebende Organismus der Erde ist ein Hallimasch – er ist über 900 qkm groß und mehr als 2000 Jahre alt. Während jedoch Pflanzen Fotosynthese betreiben und damit ihre Nahrung selbst herstellen, ernähren sich Pilze indem sie Enzyme ausscheiden – sie verdauen außerhalb ihres Körpers. Auf diese Art zersetzen sie totes wie lebendes Material und machen die Nährstoffe (z.B. Mineralien) daraus für sich selbst oder Partnerwesen (Moose, Flechten, Pflanzen, Tiere) verfügbar. Doch welche Bedeutung ihnen damit zukommt, wurde nicht durch systematisch- wissenschaftliche Beschreibung, sondern per Zufall erkannt. Die Entdeckung des Penizillins erweiterte den wissenschaftlichen Horizont nicht nur auf medizinischem Gebiet.

Pilze waren und sind große Zerstörer*innen und Gestalter*innen unserer Welt. Ohne sie wäre an Land kein Leben entstanden oder es wäre schon längst wieder am eigenen Abfall erstickt. Es gibt Grund zur Hoffnung, dass einige Pilze eines Tages auch mit unserem Plastikmüll klarkommen werden .

Bürger*innen, die viel zu selten als Expert*innen jenseits akademischer Welten betrachtet werden, haben vielleicht auch dies irgendwo anders in der Welt schon längst beobachtet, zum Beispiel auf den Müllbergen indischer Großstädte. Genauso wie die antibiotische Wirkweise von bestimmten Pilzen in China bereits vor Jahrhunderten genutzt wurde .

Um die Probleme unserer Welt zu lösen ist es wichtig, dass solcherart Wissen zugänglich und damit global nutzbar gemacht wird. Im besten Fall profitieren alle davon, im schlechtesten haben wir auf anderer Ebene versagt, was hier aber nicht Thema sein soll.

These 1:

Am Anfang war “Citizen Science”. Es gibt auch heute jede Menge Wissen und Wissensproduktion außerhalb der akademischen Wissenschaften. Dieses Wissen zu erschließen kann gesellschaftlich von großem Nutzen sein.

“Citizen Science” als Grundlage für automatisierte Wissensproduktion.

Was also soll dieses neue Label “Citizen Science”? Wer meint was damit? Und zu welcher Form der Wissenschaft wird das führen?

Dem Positionspapier des Directorate-General for Research and Innovation der Europäischen Kommision von 2016 wird allen Überlegungen ein Vorwort ihres damaligen Präsidenten, Jean-Claude Juncker, vorangestellt, das mit den Worten beginnt: “Research and innovation create investment opportunities” [EU, 2016, S.5]. Um dies und nichts anderes geht es. Das Problem, um das in diesem Bericht alles kreist, ist die Tatsache, dass Europa a) in Sachen Wissenschaft weltweit nicht an der Spitze steht und b) die zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht schnell genug und nicht in für die Autoren (men only) ausreichendem Maße in Geld umwandeln kann. Die vorgeschlagene Lösung des Problems: Forschung standardisieren und damit für Startups leicht nutzbar machen. Dass damit gleichzeitig ein Heer unbezahlter Mitarbeiter*innen rekrutiert wird, das teure akademische oder unternehmerische Feldforschung zunehmend überflüssig machen könnte, ist demgegenüber wahrscheinlich nur ein angenehmer Nebeneffekt.

Ähnlich wie die Verlagerung von bezahlter Care-Arbeit auf das Ehrenamt, könnte diese Strategie auch im Bereich der Wissenschaften funktionieren, weil es die Menschen bei ihrem Wunsch nach Anerkennung und nach sinnvoller Beschäftigung packt.

Unter “Citizen Science” und den als solchen öffentlich geförderten Projekten sind also mit der EU-Strategie solche zu verstehen, die Bürger*innen jenseits des etablierten Wissenschaftsbetriebs die Möglichkeit zur Beteiligung bieten, und die am Ende standardisierte, d.h. direkt für die ökonomische Verwertung aufbereitete Daten liefern. Die Anforderungen an die entsprechende Wissensproduktion werden dabei ausgerechnet unter dem Label FAIR („findable, accessible, interoperable and reusable“) zusammengefasst.

Diese Forderungen sind mit Hilfe aktueller Technologien leicht umzusetzen. Sehen wir uns die Projekte an, die auf der deutschen Citizen Science Plattform „Bürger schaffen Wissen“ aufgelistet werden, ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass die Teilnahme meist über Apps oder Online-Formulare erfolgt.

Wo dies ausschließlich der Fall ist, finden gesellschaftsrelevante und gemeinschaftsbildende Effekte, mit denen „Citizen Science“ oft verbunden wird, überhaupt nicht mehr statt [vgl. Kinchy und Kimura, 2016].

Ein typisches „Citizen Science“-Projekt im Bereich der Pilzkunde, ist der „Pilzfinder“ der Universität Wien . Ein ähnliches Projekt gibt es in Deutschland , dort wird jedoch nicht ausdrücklich auf den Begriff „Citizen Science“ Bezug genommen.

Als Projektziele werden in beiden Fällen zwar Kartierung, Entdeckung neuer Arten, und ein Monitoring des Klimawandels genannt. Aber Mitmachen heißt letztlich Datensammeln. Die angebotenen Apps und Online-Formulare sorgen für die nötige Standardisierung und versehen Kamera-Aufnahmen gleich mit zuverlässigen GPS-Koordinaten und dem genauen Zeitpunkt der Aufnahme, und wer weiß, mit was für Daten aus dem Smartphone noch (aber ich will jetzt hier nicht über Datenschutz und Privatheit reden). Bei “Citizen Science”-Projekten in anderen Bereichen ist es genauso. Ambitionierte Bürger*innen können in ähnlicher Weise Wildtiere in der Stadt, Vogelstimmen, Insektenbilder und vieles mehr aufnehmen und verschicken.

Die so gesammelten und standardisierten Daten können genutzt werden, um Software zu trainieren. Dabei gilt: Je mehr Daten, desto besser “lernt” die Maschine.

Die Ergebnisse dieser Art des Lernens, also das, was “künstliche Intelligenz” am Ende hervorbringt, ist Mustererkennung. Dahinter stehen oft sehr komplexe mathematische Funktionen, aber nur selten in Worte fassbare und damit nachvollziehbare und hinterfragbare Erkenntnisse. Funktionieren tut dies allerdings häufig sehr gut. (Z.b. im Bereich der Spracherkennung. Früher hat die Linguistik nach den universellen Regeln zur formalen Analyse von Sprache gesucht, bis Google und andere, die über den nötigen Datenkorpus verfügten, mit ihren auf Wahrscheinlichkeitsrechnung basierenden Algorithmen in kürzester Zeit viel bessere Ergebnisse vorlegten).

Heute werden Computerprogramme noch zum allergrößten Teil von Menschen geschrieben. Aber schon wird daran geforscht, selbst die Programmierung zu automatisieren. Mit den online verfügbaren riesigen Mengen an Quellcode (Open Source sei Dank) werden Maschinen trainiert mit dem Ziel, auch Software künftig maschinell zu entwicklen. Auf dieselbe Art könnte sich auch wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung automatisieren lassen. Doch zu welchem Preis?

Cathy O‘Neill hat in ihrem Buch „Weapons of Math Destruction“ [O’Neill, 2016] ausführlich dargelegt, wo die gesellschaftlichen und erkenntnistheoretischen Gefahren maschinellen Lernens liegen: in der möglichen Perpetuierung von Vor- und Fehlurteilen, in der Verschleierung eben dieser, in einem zunehmenden Verlust von Transparenz und demokratischen Einflussmöglichkeiten.

These 2:

Hinter “Citizen Science” steht in der EU in erster Linie ein ökonomisch motiviertes Datensammlungsprojekt.

These 3:

Die Sammlung immer größerer Mengen standardisierter – im EU-Sprech „FAIRer“ – Daten ist zugleich die Voraussetzung für die Automatisierung von Wissensproduktion.

These 4:

In Zukunft werden nicht mehr Menschen darüber bestimmen, was für Erkenntnisse aus Daten generiert werden. Nur noch wenige Menschen werden diese Erkenntnisse verstehen, hinterfragen und beurteilen können.

These 5:

Damit ist „Citizen Science“ letztlich ein Angriff auf Transparenz und das Gegenteil von einer Demokratisierung der Wissenschaften.

Anderes Wissen ist möglich und nötig.

Pilzesammeln als besseres Modell für die Betrachtung der Welt.

Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing hat in ihrem wunderbaren, der Philosophin Donna Haraway gewidmeten Aufsatz “Mushrooms as Companion Species” [Tsing, 2012] eine ganz andere Art von Erkenntnisprozess geschildert, der das Finden von Pilzen begleiten kann. Dieser Erkenntnisprozess beginnt mit der Freude, vielleicht der Dankbarkeit über unseren Fund. Die meisten Pilze lassen sich nicht züchten, wir müssen sie suchen, und wenn wir sie dann entdecken, erleben wir die Begegnung mit ihnen oft als Geschenk. Pilze sind kein Privateigentum, wir können sie nicht kaufen, um ihnen zu begegnen müssen wir sie kennenlernen. Wir machen uns mit der Umgebung vertraut, in der Hoffnung, sie das nächste Mal noch gezielter suchen zu können, denn viele Pilze leben in Partnerschaft mit bestimmten Pflanzen, bevorzugen bestimmte Böden oder Witterungsverhältnisse.

Wer Pilze beobachtet kann auch die Auswirkungen menschlichen Handelns beobachten. Wo Getreide und anderes in Monokultur angebaut wird, wo Landwirt*innen mit stickstoffhaltigem Dünger arbeiten, wo Forstwirt*innen durch den Einsatz schwerer Maschinen den Boden verdichten, da werden Pilzfunde selten, die ökologischen Folgen unseres gesellschaftlichen Handelns spürbar. Die Bedeutung der wechselseitigen Beziehungen zwischen den Wesen, für die wir Menschen oft blind sind, kann beim Pilzesammeln ganz unmittelbar erfahren werden.

Und hier reden wir nur von den sogenannten Großpilzen, denjenigen, deren Fruchtkörper wir sehen können, nicht von den unzähligen Arten, die ungesehen in und mit uns auf diesem Planeten leben.

These 6:

Auch im Bereich der Wissenschaften bedrohen Monokultur und zunehmende Reduzierung der Artenvielfalt unsere Existenz.

These 7:

Die Beschäftigung mit Pilzen führt uns direkt über eine ego- oder anthropo-zentrische Weltsicht hinaus in Erfahrungswelten des Miteinander und der unauflöslichen Verflechtungen, die zugleich Leben und Vergehen bringen, und deren Zukunft wir nicht kennen, sondern mit-erschaffen.

Und hier käme vielleicht auch noch einmal Paul Feyerabend zum Einsatz, der ja – nicht als einziger in der Geschichte, aber unermüdlich – darauf hingewiesen hat, dass qualitative Fortschritte in den (Theoriebildungen der) Wissenschaften gerade nicht auf geflissentlich befolgten Regeln und Standards, sondern auf dem Bruch mit der herrschenden Norm, dem plötzlichen Wechsel der Gangart und der Entdeckung radikal anderer Sichtweisen beruhen [Feyerabend, 1980]. Oder, wie Pilzsammler*innen sagen würden: spannend wird es jenseits der bekannten Wege, da wo niemand vor uns war, in den realen, mit allen Sinnen erfahrbaren, unermesslichen Verflechtungen des Lebens.

Literatur

Directorate-General for Research and Innovation (European Commission): Open Innovation, Open Science, Open to the World: a Vision for Europe, 2016.

Paul Feyerabend: Erkenntnis für freie Menschen, 1980.

Aya H. Kimura und Abby J. Kinchy : Citizen Science: Probing the Virtues and Contexts of Participatory Research, 2016.

Cathy O’Neil: Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy. USA, 2016 .

Anna Tsing: Unruly Edges: Mushrooms as Companion Species. Department of Anthropology, University of California, Santa Cruz, USA, 2012. (Online unter http://tsingmushrooms.blogspot.com/, abgerufen am 23.7.2019)

Die Veränderung, die du dir wünschst

Was, wenn an dem Ort, den du liebst, Aliens landen würden, die alle in das verwandeln könnten, was sie gern wären?

Würde sich die Natur rächen für das, was wir Menschen ihr angetan haben? Wie lange würde es dauern, bis Rache und Gewalt sich ausgetobt hätten? Gäbe es ein Danach? Würde alles ins Chaos stürzen?

Die in den USA geborene Autorin Nnedi Okorafor, deren Eltern aus Nigeria sind, hat dieses Szenario in ihre Lieblingsstadt Lagos gelegt und mit Hilfe einer Spinne einen Comic-haften Roman daraus gewoben: Lagune, erschienen 2016 im Cross-Culture-Verlag.

Insgesamt ein starkes und inspirierendes Buch, das das, was ist, nicht beschönigt, aber dann alles an Fantasie, Superheld*innenkräften und Explizitheit aufbietet, um es zu überwinden. Gewalt gegen Frauen wird bestraft – und die Gewalt gegen LGBTTI* hoffentlich eines Tages auch. Betrug, Korruption und Verbrechen gegen die Umwelt – nichts kann bleiben, wie es ist. Die fremden Wesen sind vor allem eins: Veränderung.

Nnedi Okorafor erzählt aus einer klar nicht-männerdominanten Perspektive, womit ich folgendes meine:

  • Eine Frau als Protagonistin – gleichberechtigt neben Männern, die Gewalt gegen Frauen klar ablehnen. Andere Männer sind keine Sekunde lang Sympathieträger.
  • Die Botschafterin der Aliens erscheint (meist) in Gestalt einer Frau.
  • Auch weibliche Nebenfiguren haben eigene Geschichten und ein eigenes Standing.
  • Besondere Lebensbedingungen von Frauen werden erkannt und benannt.
  • Von der Norm abweichende und auch nicht-menschliche Wesen kommen als Leidens- und entscheidungsfähige Subjekte vor, und die Gewalt, der sie aktuell in der (hier nigerianischen) Gesellschaft ausgesetzt sind, als brutal und ignorant erlebbar.

So könnten natürlich auch Menschen schreiben, die sich nicht als Frau definieren – sie tun es aber leider immer noch VIEL zu selten.

Nnedi Okorafor: Lagune. Cross Cult Verlag, 2016.

Die Entdeckung dieses Buchs verdanke ich Marion und ihrem Blog schiefgelesen.net . Für solche Anregungen lese und schreibe ich Blogs. Folgt uns und gebt weiter, was ihr gut findet, damit wir auch morgen noch Bücher lesen können, die es nicht auf den Wühltisch bei Thalia schaffen!