Die Fabrik, das wissen alle, hat ihre besten Zeit weit hinter sich und wird bald schließen. Doch nicht das ist die größte Sorge des Chefs und der wenigen verbliebenen Mitarbeiter*innen, sondern ein Wolf, der angeblich auf dem Fabrikgelände gesehen wurde.
Nach und nach stellt die dreißigjährige Schweizer Autorin Gianna Molinari in ihrem Roman „Hier ist noch alles möglich“ das auf unterschiedliche Weisen zu Jägern werdende Fabrikpersonal vor. Da sind neben dem selbstverliebten Chef zunächst die Befehlsempfänger, die Protagonistin und ihr Kollege, die sich beim gemeinsamen Fallenbauen näher kommen. Da ist einer, der – „einer muss es ja tun“ – am liebsten sofort zum Gewehr greifen würde. Und der sich gleichzeitig, wenn es um seine persönliche Zukunft geht, ins Weltall träumt, anstatt aktiv zu werden und/oder von Bord des sinkenden Schiffs zu springen. Das wiederum tun andere – und werden damit selbst auf eine Art zu Vertriebenen, auch wenn auf sie nicht gleich Jagd gemacht wird.
Doch wer ist eigentlich der Gejagte? Nur, wer ihm nichts tut, kann in diesem Roman vielleicht einmal aus der Ferne einen Blick auf ihn erhaschen. Und doch nichts über ihn wissen.
Die skurrile Geschichte der Jagd auf einen Wolf in den Ruinen der Industrialisierung ist für sich schon ganz wunderbar. Toll erzählt, einprägsam in Atmosphäre, Bildern und Charakteren.
Gianna Molinari legt aber noch eine zweite Ebene darüber. Die Erzählerin begegnet innerhalb der Romanhandlung nämlich der leider nicht fiktiven Geschichte vom „Mann, der vom Himmel fiel“. 2010 wurde in der Schweiz ein dunkelhäutiger Mann tot aufgefunden, dessen Herkunft sich zunächst niemand erklären konnte. Schließlich wurde vermutet, dass er beim Landeanflug einer aus Afrika kommenden Maschine aus dem Fahrwerk gestürzt sein musste, wo er sich wahrscheinlich versteckt hatte. Seine Identität ist bis heute unbekannt.
Flüchtende, die es vielleicht nach Europa schaffen, vielleicht aber auch nicht, die kennenzulernen wir uns nicht einmal die Mühe machen, bevor wir sie schon jagen. Wie Wölfe, immer gut für einen Skandal, auch wenn kaum jemand sie je selbst zu Gesicht bekommen hat. Sind nicht zum Urlaub machen hier, sondern weil sie von irgendwo anders vertrieben wurden. Doch allein die Tatsache, dass sie (von irgendwelchen Kapitalisten abgesteckte) Grenzen überschreiten, macht sie zum Freiwild. Und auch, wenn es nicht unsere Fabrik ist, auch, wenn der Chef uns eh demnächst alle über die Klinge springen lässt: wir lassen uns gegen sie aufwiegeln und machen mit, wenn es heißt: die müssen raus. Auf unterschiedliche Arten, ja, aber die meisten machen mit. Andere sehen/gehen weg. Aber wer hilft?
Sprache, Bilder, Form, Vorstellungs- und Überzeugungskraft, politische Haltung – für mich stimmt in diesem kurzen Roman einfach alles. Ich bin begeistert!
Mehr Infos zum Buch auf den Seiten des Aufbau-Verlags, dem ich dankbar bin dafür, immer wieder neuen, mutigen und politisch engagierten Autor*innen jenseits des Mainstreams ein Forum zu bieten: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/hier-ist-noch-alles-moglich.html
Ein Gedanke zu „Jäger und Verjagte“