FDGO Revisited

​Als ich jung war, konnte ich mir nicht vorstellen, mir jemals die Verteidigung der bundesdeutschen freiheitlich- demokratischen Grundordnung auf die Fahnen zu schreiben. 

Ich sah mich weit “links“ davon. Soll heißen: ich wollte nicht auf dem Rücken anderer frei sein und in Wohlstand leben, wollte, dass dieselben Rechte für alle gelten, auch jenseits unserer Staatsangehörigkeit und Grenzen.

Damals, in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, ging es wahrscheinlich einer überwiegenden Mehrheit der Menschen gut in der BRD. Es gab einen breiten Mittelstand, Sozialhilfe und Arbeitslosengeld, von dem eineR auch leben konnte, eine umfassend abgesicherte und staatliche Gesundheitsversorgung für alle,  einen Job zu bekommen war kein Problem und der Zugang zu Bildung war keine Frage des Geldes. Die Kehrseite der Medaille war, dass die Profite, die diesen gesellschaftlichen Wohlstand ermöglichten, auf einer ungerechten, post-kolonialen Ausbeutung der Ressourcen anderer Länder und Menschen beruhen. Und damit wollte (und will) ich nicht leben. 

Das Übel, der Kapitalismus, hatte damals hierzulande ein relativ freundliches Gesicht, und wer die andere Seite nicht sehen wollte wurde auch nicht direkt darauf gestoßen. In der Öffentlichkeit galten wir, die auf eine bessere Welt für alle pochten, als Spinnerinnen.

Das freundliche Gesicht des bundesrepublikanischen Nachkriegskapitalismus hatte ein Ziel. Es diente der psychologischen Kriegsführung. Unser System musste im Vergleich zum sozialistischen Gegenmodell im anderen Teil Deutschlands als das bessere dastehen.

Der Zusammenbruch der sozialistischen Alternative Ende der 1980er Jahre markierte daher den Zeitpunkt, ab dem diese Maske obsolet wurde. Kapitalistische Marktwirtschaft musste nun nicht mehr sozial tun. Mit dem Wegfall der Bedrohung war einer totalen Deregulierung Tür und Tor geöffnet. 

In der Folge riss die Verwertungslogik an sich, was als gesellschaftlich notwendige Aufgabe einstmals unter staatliche Kontrolle gestellt worden war: Gesundheitssystem, öffentlicher Verkehr, Bildung… wurden und werden in immer weiteren Teilen privatisiert. Mit der Konsequenz, dass Zwei-Klassen-Systeme entstehen und die allen zugängliche Grundversorgung immer schlechter wird. An Profiten – und nicht an Befriedung oder Gemeinwohl- interessierte Konzerne strecken ihre Fühler nach allem aus, was wir brauchen und wofür wir daher zahlen werden: medizinische Versorgung, Pflege, Wasser, Immobilien, Energie,… 

Und jetzt haben wir den Salat, einen nationalistisch, rassistisch und sexistisch verseuchten Salat, auch hier im reichen Zentrum Westeuropas: die Verhältnisse werden schlechter, immer mehr Menschen müssen einen sozialen Absturz fürchten, ohne Netz und doppelten Boden. Während einige (leider wenige)  ehemals bürgerlich-konservativ verortete Menschen beginnen zu ahnen, dass ein grundsätzlich kapitalismuskritischer Ansatz womöglich doch richtig ist,  wird auf der Straße in alter, leider nicht nur deutscher Tradition, wieder um sich geschlagen anstatt nachgedacht, wird “Heil“ geschrien, wenn die Stimmung gut ist, und wie im Fußballstadion wächst das Wir-Gefühl mit der Ab- und Ausgrenzung anderer*. All das scheint sich für erschreckend viele Leute irgendwie gut anzufühlen, während die Gebrandmarkten allen Grund haben, sich zu fürchten.

Wie schnell diese Furcht von der Realität noch übertroffen werden kann, müssen wir derzeit in den USA, in der Türkei und in Polen beobachten. Innerhalb von wenigen Tagen und Wochen kann eine gewählte Regierung  Ernst mit ihren chauvinistischen Parolen machen und einen Staat in eine Diktatur verwandeln.

In Deutschland könnte dies auch passieren, wenn die AfD zusammen mit anderen rechten Parteien im Herbst die Wahlen gewinnt. Genauso gefährlich ist es, wenn etablierte Parteien (und Medien)  aus Angst davor – quasi in vorauseilendem Gehorsam – deren Ansichten, Parolen und Forderungen übernehmen. 

Wir müssen JETZT gegensteuern. Und zur Not eben MINDESTENS die freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigen, in der immerhin die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen, unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht, sowie Pressefreiheit und Gewaltenteilung fest verankert sind.

Vielleicht ist eine darüber hinaus gehende Vision dabei sogar hilfreich.

* An dieser Stelle ein Wort gegen die Verwendung des Begriffs der “Minderheiten“: diejenigen, denen rechtspopulistische Rednerinnen und Redner derzeit den Schutz des Staates, also der Gesellschaft, entziehen wollen, diejenigen sind zusammengenommen eben keine Minderheit:

  • Frauen, die mehr wollen als deutsche Soldaten gebären
  • Lesben und Schwule
  • Geflüchtete
  • Menschen, die auch andere Kulturen leben wollen

Wenn wir uns spalten lassen, wenn wir (wie bisher nur zu häufig) wegschauen, solange es uns nicht selbst ganz unmittelbar betrifft, dann sind wir wirklich angreifbar.